Moderne Erschöpfung hat antike Wurzeln |
Jennifer Evans |
25.08.2025 11:00 Uhr |
Ewige Angst vor Energieverlust: Schon immer haben sich Menschen Sorgen über Erschöpfung gemacht und nach den Ursachen geforscht. / © Adobe Stock/wifesun
Menschen erleben seit Jahrhunderten extreme Erschöpfung und Müdigkeit. Sie klagen über Energieverlust und suchen nach den Ursachen. Nur die Interpretation dieses Zustands unterscheidet sich in den unterschiedlichen Epochen. Das berichtet die Kulturhistorikerin Dr. Anna Katharina Schaffner in einem Podcast von »Deutschlandfunk Kultur«. Früher hat sie als Professorin für Kulturgeschichte an der Universität Kent zum Thema Erschöpfung geforscht; heute ist sie als Autorin und Coach tätig.
Die ersten Schriften über Erschöpfung reichen der Kulturhistorikerin zufolge bis ins alte China zurück. Die Rede ist damals – wie oft auch heute – von nachlassender Lebenskraft und Engagement, einem Abgleiten in den Pessimismus, einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit oder der Angst vor Schwäche, Krankheit und Tod. Und je komplexer sich die sozialen Systeme entwickelten, desto schlimmer war die Angst vor diesem Zustand, schildert sie. Das lag daran, dass man sich um den Erhalt der Gesellschaft sorgte, wenn Menschen nicht mehr ihre volle Arbeitskraft abliefern könnten, so Schaffner.
In der Antike und in der frühen Neuzeit war die Erklärung für den Energieräuber die Humoralpathologie, also die Dysbalance der menschlichen Körpersäfte. Konkret machte man damals die schwarze Galle für Erschöpfung und Melancholie verantwortlich. Man stellte sich vor, dass durch das Verbrennen der überschüssigen schwarzen Galle Rauch im Körper aufsteige, der die Gedanken trübe, so Schaffner. Daran erinnert das bildliche Konzept vom Schwarzsehen.
Spätere Erklärungsversuche von Erschöpfung befassten sich laut Schaffner entweder mit körperlichen oder geistigen Einflüssen. Wenn etwa zwei Teile in unserem Wesen gegeneinander kämpften, weil sie unterschiedliche Dinge wollten. Bis hin zu tiefenpsychologischen Modellen, wo ein überaktives Über-Ich das Ego tyrannisierte. Stichwort: Sigmund Freud.
Die Acedia-Theorie jedoch, abgeleitet vom Altgriechischen für Nachlässigkeit, folgte laut der Kulturhistorikerin einem anderen Ansatz: Als sich die geistige Trägheit unter den katholischen Mönchen ausbreitete, erklärte die Kirche sie bald zur Todsünde – und damit war sie moralisch. Die Erschöpfung interpretierte man als »ein ethisches, spirituelles Fehlverhalten«, erläutert sie.
Den Betroffenen warf man vor, sich nicht genug anzustrengen, sprich zu wenig »spirituelle Energie aufzubringen«, um das »tolle Werk Gottes zu würdigen«. Seinerzeit ging man aber davon aus, dass sich die träge Haltung allein mit Willenskraft besiegen ließ. Dennoch haben die Klöster das Problem der »laschen Geisteshaltung« offenbar sehr ernst genommen, wie Schaffner berichtet, und sie teilweise sogar als Ursache für die anderen Todsünden angeführt.
Moralische Denkmuster sieht die Kulturhistorikerin bis heute hinter vielen Formen der Erschöpfung. Einige Menschen hielten es für moralisch verwerflich, sich auszuruhen, faul zu sein oder Selbstfürsorge zu betreiben. Wie eine Art Todsünde wirke dabei der Gedanke, Zeit zu verschwenden, statt sie produktiv zu nutzen, schildert sie das Dilemma.
Einfach einmal Spaß haben, ohne sich selbst optimieren, weiterbilden oder den nächsten Arbeitserfolg sicherstellen zu wollen, falle vielen schwer. »Erfolg ist für uns ein Heilversprechen«, sagt sie. Von der Arbeit erwarteten wir nicht mehr nur Einkommen und Status, sondern auch, dass sie unsere Existenz legitimiere und Sinn stifte. Sie sei eng mit unserer Identität verknüpft.
Ein solches Streben nach Effizienz, Produktivität und Erfolg ist bereits tief im protestantischen Arbeitsethos verankert. Harte Arbeit und Sparsamkeit hatten darin einen ebenso bedeutsamen Stellenwert, wie der religiöse Verzicht – auf Kosten des Vergnügens. Die Vorstellung mit »weltlichen Erfolgen zu den Auserwählten zu gehören«, wirke auch heute noch nach, so Schaffner.
Erschöpfung war aber nicht zu jeder Zeit negativ konnotiert. Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel kam für überreizte und überforderte Menschen mit »schwachen Nervenkostümen« eine neue Diagnose daher: die Neurasthenie. Zeitgenossen hielten Betroffene für wenig resilient, was vor allem die Folgen des industriellen Umschwungs betraf wie lange Arbeitstage und mehr Geschwindigkeit. Dennoch: »Neurasthenie war eine Trenddiagnose«, hob Schaffner hervor. Als sehr anfällig galten nämlich gebildete, hochsensible und künstlerisch veranlagte Menschen, also Feingeister. Und dazu zählte man sich seinerzeit gern.
Das spiegelte sich natürlich auch in der Literatur wider. So schuf der Schriftsteller Thomas Mann, der sich selbst als Neurastheniker bezeichnete, ebenfalls einige Figuren mit diesem Leiden. Schaffner bemerkte, dass »Der Tod in Venedig« aus dem Jahr 1911 eigentlich eine Novelle über Burn-out gewesen sei.
Auf die Neurastheniker geht immerhin zurück, dass wir bis heute nach Gründen für Erschöpfungszustände auch in der Schnelllebigkeit der Außenwelt suchen. Die Kulturhistorikerin verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf die neuen Technologien, die – statt uns Arbeit abzunehmen und Zeit zu ersparen – Energie rauben. »Ihr Freizeitversprechen haben sie nie eingelöst«, bedauert sie.
Selbst den Schlaf versuchten wir mit Smartphone-Apps zu optimieren. Richtig offline ist kaum einer mehr – weder realistisch noch gedanklich. Schaffner betont: »Wir haben eine Welt geschaffen, die uns auf jeden Fall psychologisch und physisch extrem schadet.«
Sie warnt jeden vor dem Schrumpfen des Lebens. Damit meint sie, dass viele Menschen, die überlastet und müde sind oder die Arbeit nicht loslassen können, ihre Freundschaften, Sport und Hobbys vernachlässigen – und damit Aktivitäten, die Energie bringen.
Körper und Geist haben vergessen, wie Erholung und Ruhe funktionieren. Dieser Dauerstress zeigt sich Schaffners Auffassung nach auch im Konsumverhalten unserer Zeit. Es wird zu viel getrunken, geshoppt oder gestreamt. Wer in diesem Kreislauf stecke, sei zu erschöpft, um auszubrechen – und konsumiere noch mehr Schädliches. »Und das spürt die Seele.«