Mikrokosmos der Gewalt |
Angela Kalisch |
17.10.2022 07:00 Uhr |
Der Historiker Professor Dr. Hans-Walter Schmuhl, Universität Bielefeld, erkennt in dieser Konstellation das Muster der »totalen Institution«, einem seit den 1960er-Jahren von dem US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman geprägten Begriff für Organisationsformen, in denen ein Individuum in seiner kompletten Lebensführung in ein Teilsystem eingebunden und einer zentralen Autorität untergeordnet ist. Beispiele für eine totale Institution nach Goffman sind Gefängnisse, Schiffsbesatzungen und Klöster, aber auch geschlossene Abteilungen in psychiatrischen Kliniken.
Mabuse Verlag 2020, 243 Seiten, ISBN: 978-3-86321-532-3, EUR 34,95
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Exakte Planung, strenge Regeln und Überwachung und Kontrolle aller Tätigkeiten innerhalb der Einrichtung gehören zu den Kennzeichen einer totalen Institution. Der Einzelne wird von der Gesellschaft isoliert und erfährt einen Bruch mit der Teilhabe in allen Bereichen außerhalb der Einrichtung. Eine demütigende, herabsetzende Behandlung dient der Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft und der einfacheren Handhabung der Insassen durch die Unterdrückung von menschlichen Bedürfnissen, die im Gegensatz zu den Zielen der Gruppe stehen könnten.
Was schon bei Erwachsenen für soziale Spannungen sorgt, geht bei Kindern mit einer erheblichen Erschütterung in ihrer Entwicklung einher. Der Aufenthalt in einer totalen Institution, wenn auch zeitlich eng begrenzt, kann bei Kindern zu einer starken Verunsicherung des Selbst und zu einem Vertrauensverlust gegenüber anderen führen.
In einer noch nicht abgeschlossenen Studie konnte die Professorin Dr. Ilona Yim (University of California, Irvine) bereits nachweisen, dass Menschen, die als Kind alleine in eine Erholungskur verschickt worden waren, ein fünfmal höheres Risiko für eine Depression aufweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ebenso deutlich geht aus ihren Studiendaten hervor, dass die Betroffenen eine vermeidende Haltung bei sozialen Bindungen einnehmen.
Yim, die zu den Folgen von Stress auf die Gesundheit forscht, führt diese ersten Ergebnisse darauf zurück, dass das Stresssystem bei Kindern noch nicht ausgebildet ist und die verstörenden Erfahrungen des Kuraufenthalts nicht adäquat verarbeitet werden konnten.
Gradierwerk in Bad Sassendorf / Foto: Imago Images/imagebroker
Einen typischen Tagesablauf am Beispiel von einem Kinderkurheim in Bad Sassendorf, dem Tagungsort des Kongresses, stellte die Historikerin Dr.Lena Krull von der Universität Münster vor. Bad Sassendorf hat eine lange Tradition als beliebter Kurort, vor allem durch die Nutzung des Gradierwerks als Freiluftinhalation mit solehaltiger Luft.
Als auffällig konnte Krull bei ihrer Recherche feststellen, dass die Schlafzeiten einen erheblichen Raum einnahmen. Mehr als zwölf Stunden Nachtruhe plus zwei bis drei Stunden Mittagsschlaf für alle Kinder, unabhängig vom Alter, ließen kaum noch Zeit für Freizeitaktivitäten oder persönliche Zuwendung. Der Rest des Tages orientierte sich an den Mahlzeiten entlang und auch für die Körperhygiene waren nur kleine, klar definierte Zeitfenster vorgesehen, in denen es den Kindern überhaupt erlaubt war, die Toilette aufzusuchen. Ein Grund für dieses Vorgehen war eine Überforderung des Personals aufgrund von zu knappen Ressourcen, wie Krull anhand von Archivdaten nachweisen konnte.