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Kinderkurheime

Mikrokosmos der Gewalt

Zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren wurden deutschlandweit Millionen Kinder alleine in Kinderkurheime zur Erholung verschickt. Statt gesund und erholt kamen viele Kinder traumatisiert von ihren meist sechswöchigen Aufenthalten zurück. Erste Ergebnisse der Aufarbeitung dieser Zeit wurden Mitte September bei einem Kongress in Bad Sassendorf vorgestellt.
Angela Kalisch
17.10.2022  07:00 Uhr

Die Gesichter der Kinder blicken ernst. In leuchtend bunte Farben gekleidet wurden sie in eine dunkle Szenerie versetzt, wie in ein Bühnenbild, in dem die Protagonisten das Stück nicht kennen, das gespielt wird. Das Werk der Hamburger Künstlerin Heike Fischer-Nagel zeigt Erinnerungssplitter aus kindlich-naiver Perspektive, gibt intime Einblicke in alptraumartige Illusionen und deutet das Verstörende diffus an, lässt erlebtes Leid nur erahnen.

Mit ihrer Ausstellung »Wunde Würde – Bedrängte Erinnerung« präsentierte Fischer-Nagel ihre Bilder und Installationen begleitend zum vierten bundesweiten Kongress der Verschickungskinder, der Mitte September in Bad Sassendorf stattfand. Die Künstlerin selbst ist eine der zahlreichen Betroffenen, die als Kind in eine Erholungskur »verschickt« wurden. Ihre Kunst trägt somit auch stark autobiografische Züge, in der seelische Verletzung und Entwurzelung verarbeitet werden.

Soziale Indikation

Aus heutiger Sicht wäre es unvorstellbar, Kinder im Kindergarten- oder Grundschulalter unbegleitet in einen mehrwöchigen Kuraufenthalt zu schicken. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sah das noch ganz anders aus. Kinder wuchsen häufig in prekären Familiensituationen auf, waren mangelernährt und litten an Krankheiten wie Tuberkulose. Gleichzeitig standen die Zeichen auf Wirtschaftswunder, eine Entlastung der Eltern und ein Aufpäppeln der Kinder erschienen als soziale Wohltat für die Gesellschaft auf der einen und als wichtiger Wirtschaftsmotor für die Kurorte auf der anderen Seite. An diesem Konzept wurde jahrzehntelang festgehalten, hinterfragt wurde es kaum.

Mehr als vierzig Jahre später stehen diese gut gemeinten Maßnahmen nun heftig in der Kritik. Den Stein ins Rollen brachte vor drei Jahren eine Initiative von Betroffenen, die sich vernetzt haben und mithilfe von Wissenschaftlern um Aufarbeitung bemüht sind. Auf der Grundlage von mehreren tausend Erinnerungsberichten wird sichtbar, dass die Kinder in den Kurheimen systematisch psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt waren. Demütigungen, Strafen und ein striktes Kontaktverbot nach außen bildeten die Struktur für das pädagogische Konzept der Kuraufenthalte. Ein rigider Tagesablauf mit Essens- und Schlafzwang und festgelegten Toilettenzeiten diente zur Kontrolle der Kinder, die auf diese Weise ihrer individuellen, auch grundlegend körperlichen Bedürfnisse beraubt wurden und sich in der Gruppe einordnen mussten.

Totale Institution

Der Historiker Professor Dr. Hans-Walter Schmuhl, Universität Bielefeld, erkennt in dieser Konstellation das Muster der »totalen Institution«, einem seit den 1960er-Jahren von dem US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman geprägten Begriff für Organisationsformen, in denen ein Individuum in seiner kompletten Lebensführung in ein Teilsystem eingebunden und einer zentralen Autorität untergeordnet ist. Beispiele für eine totale Institution nach Goffman sind Gefängnisse, Schiffsbesatzungen und Klöster, aber auch geschlossene Abteilungen in psychiatrischen Kliniken.

Exakte Planung, strenge Regeln und Überwachung und Kontrolle aller Tätigkeiten innerhalb der Einrichtung gehören zu den Kennzeichen einer totalen Institution. Der Einzelne wird von der Gesellschaft isoliert und erfährt einen Bruch mit der Teilhabe in allen Bereichen außerhalb der Einrichtung. Eine demütigende, herabsetzende Behandlung dient der Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft und der einfacheren Handhabung der Insassen durch die Unterdrückung von menschlichen Bedürfnissen, die im Gegensatz zu den Zielen der Gruppe stehen könnten.

Was schon bei Erwachsenen für soziale Spannungen sorgt, geht bei Kindern mit einer erheblichen Erschütterung in ihrer Entwicklung einher. Der Aufenthalt in einer totalen Institution, wenn auch zeitlich eng begrenzt, kann bei Kindern zu einer starken Verunsicherung des Selbst und zu einem Vertrauensverlust gegenüber anderen führen.

Kindliche Entwicklung

In einer noch nicht abgeschlossenen Studie konnte die Professorin Dr. Ilona Yim (University of California, Irvine) bereits nachweisen, dass Menschen, die als Kind alleine in eine Erholungskur verschickt worden waren, ein fünfmal höheres Risiko für eine Depression aufweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ebenso deutlich geht aus ihren Studiendaten hervor, dass die Betroffenen eine vermeidende Haltung bei sozialen Bindungen einnehmen.

Yim, die zu den Folgen von Stress auf die Gesundheit forscht, führt diese ersten Ergebnisse darauf zurück, dass das Stresssystem bei Kindern noch nicht ausgebildet ist und die verstörenden Erfahrungen des Kuraufenthalts nicht adäquat verarbeitet werden konnten.

Einen typischen Tagesablauf am Beispiel von einem Kinderkurheim in Bad Sassendorf, dem Tagungsort des Kongresses, stellte die Historikerin Dr.Lena Krull von der Universität Münster vor. Bad Sassendorf hat eine lange Tradition als beliebter Kurort, vor allem durch die Nutzung des Gradierwerks als Freiluftinhalation mit solehaltiger Luft.

Als auffällig konnte Krull bei ihrer Recherche feststellen, dass die Schlafzeiten einen erheblichen Raum einnahmen. Mehr als zwölf Stunden Nachtruhe plus zwei bis drei Stunden Mittagsschlaf für alle Kinder, unabhängig vom Alter, ließen kaum noch Zeit für Freizeitaktivitäten oder persönliche Zuwendung. Der Rest des Tages orientierte sich an den Mahlzeiten entlang und auch für die Körperhygiene waren nur kleine, klar definierte Zeitfenster vorgesehen, in denen es den Kindern überhaupt erlaubt war, die Toilette aufzusuchen. Ein Grund für dieses Vorgehen war eine Überforderung des Personals aufgrund von zu knappen Ressourcen, wie Krull anhand von Archivdaten nachweisen konnte.

Historische Kontinuitäten

Die schlechte Ausstattung, sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht, sieht auch Schmuhl als einen der Gründe an, warum die Kinderkurheime auf diese Weise geführt wurden. Um einen reibungslosen Ablauf trotz geringer Mittel zu gewährleisten, sei eiserne Autorität und strenge Disziplinierung den Kindern gegenüber unausweichlich erschienen. Darüber hinaus griffen die Betreuerinnen, die zumeist in der Zeit des Nationalsozialismus sozialisiert worden waren, auf ihre eigenen Erfahrungen und selbst erlernten Erziehungsmethoden zurück. Um zu erreichen, dass die Kinder möglichst störungsfrei funktionierten, war fast jedes Mittel recht, auch die Gabe von Medikamenten (siehe Kasten).

Bei der Podiumsdiskussion am letzten Kongresstag beklagten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die bisherige mangelhafte finanzielle Ausstattung der Forschung zu diesem Themenkomplex. Die Pionierarbeit der Apothekerin Dr. Sylvia Wagner im Bereich der Erforschung von Medikamentenmissbrauch in Kinderkuren beispielsweise geschah jahrelang ohne Bezahlung. Erst vor Kurzem erhielt sie eine Förderung durch das Land Nordrhein-Westfalen.

Nicht nur die Betroffenen selbst wünschen sich eine umfassende Aufklärung der Geschehnisse. Auch wenn die Kindererholungs­kuren der Vergangenheit angehören, lohnt sich auch heute der Blick auf vergleichbare Einrichtungen, wie etwa Senioren- und Pflege­heime. Wo die Ressourcen aufgrund von Personalmangel nur für die absolut notwendige Grundversorgung der Patienten reichen, weisen die Missstände starke Parallelen zu den geschilderten Erfahrungen aus den Kinder­kuren auf. 

»Planet Wissen« (ARD) berichtet in der Sendung vom 7.10.2022 ausführlich über die Vorgänge in den Kinderkuren.  

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