Mehr Take-Home-Rezepte für Suchtkranke |
Für Drogenabhängige ist es durch die Coronavirus-Pandemie sowohl schwieriger geworden, sich selbst Stoff zu beschaffen, als auch Hilfe in Form von Substitution und Beratung zu bekommen / Foto: Fotolia/Karel Miragaya
Es gehe jetzt um ein pragmatisches Abwägen zwischen Sicherstellung der Versorgung und dem Infektionsschutz. Das hat die Konferenz der Vorsitzenden von Qualitätssicherungskommissionen der Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland bereits Mitte dieses Monats in einer Stellungnahme zur Opioid-Substitution und Covid-19 deutlich gemacht.
»Die Substitutionspraxen sind insbesondere durch die tägliche Vergabe des Substituts unter Sicht potenzielle Zentren für die Verbreitung des neuen Coronavirus. Bereits ein infiziertes Teammitglied oder eine Patienten-Infektion kann zur Schließung der Praxis führen«, heißt es in dem Papier, das bundesweit an alle KVen gesandt worden ist. Im Vergleich zu anderen Behandlungszentren stünden bei Schließungen dieser Praxen jedoch kaum alternative Vergabestellen zur Verfügung. Deshalb seien Maßnahmen zu ergreifen, die die Kontakte zwischen allen Beteiligten auf das unumgängliche Maß beschränken.
»Es muss darum gehen, in den kommenden Wochen mittels Abgaben zur eigenverantwortlichen Einnahme beziehungsweise vermehrter Ausstellung von Take-Home-Rezepten die Besuchsfrequenz in den Praxen und Ambulanzen möglichst gering zu halten«, betonten heute die federführenden Autoren des Statements, Hans-Günter Meyer-Thompson, Vorsitzender der KV-Qualitätskommission Substitutionsbehandlung, und Peter Jeschke, Vorsitzender der KV-Qualitätssicherungskommission Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit der PZ. Die novellierten gesetzlichen Bestimmungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) und der Bundesärztkammer-Richtlinie (BÄK-RL) ließen dies weitgehend zu.
Die Ausweitung von Verordnungen mit Abgaben zur eigenverantwortlichen Einnahme bei stabil substituierten Patienten sei kein Problem. Rezepte, die bislang eine Abgabe für sieben Tage vorsahen, könnten auf zwei bis vier Wochen ausgedehnt werden. Die verordneten Substitute könnten gegebenenfalls auch wöchentlich in Teilmengen beziehungsweise in begründeten Einzelfällen in der für bis zu 30 Tage benötigten Menge abgegeben werden. Die Verantwortung für die Feststellung der Take-Home-Fähigkeit des Patienten liege in der Hand der verordnenden Ärzte.
Das gelte auch für nicht stabile Patienten im Sinne der BtMVV und BÄK-RL, bei denen jedoch noch sorgfältiger zwischen suchtmedizinischen und infektionspräventiven Aspekten abgewogen werden müsse. Instabile Patienten unter Buprenorphin könnten in Einzelfällen mit der Take-Home-Verordnung des Kombinationspräparats Buprenorphin/Naloxon ausgestattet werden. Dieses Substitutionsmittel weise ein sehr geringes Missbrauchspotenzial auf. Darüber hinaus könne die Umstellung von sublingual einzunehmendem Buprenorphin auf das Depotpräparat sinnvoll sein. Auch die Ausstellung von Z-Rezepten (einmal wöchentlich für zwei Tage) zur eigenverantwortlichen Einnahme sei zulässig.
Bei langen Anfahrwegen oder in Regionen mit schlecht entwickeltem öffentlichem Nahverkehr müsse die Versorgung über wohnortnahe Apotheken beziehungsweise anderenfalls über ärztliche Hausbesuche sichergestellt sein. Eine wohnortnahe Versorgung sowie die Vermeidung von Sozialkontakten könne auch dadurch erreicht werden, dass die Vergabe des Substituts in staatlich anerkannte ambulante Drogenhilfeeinrichtungen verlagert wird.
Corona(Verdachts-)Fälle in häuslicher Quarantäne könnten entweder eine Verordnung zur eigenverantwortlichen Einnahme für die Dauer der Isolierung erhalten oder sollten durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt werden. Die Medikamente müssten direkt und kontaktlos vom Botendienst der jeweiligen Apotheke an der Haus- oder Wohnungstür des Patienten ausgeliefert werden. Der regelmäßige Arzt-Patienten-Kontakt per Video auf dem Mobiltelefon könne sinnvoll sein.
Jeschke warnte im Gespräch mit der PZ, dass es zu Lieferproblemen kommen kann, wenn die Substitutionsmittel-Verordnungen zur eigenverantwortlichen Einnahme sprunghaft ansteigen. »Von Seiten der verordnenden Ärzte kann dem bei Rezepten über sieben oder mehr Tage mittels Aushändigung von jeweils nur einer Wochendosis entgegengesteuert werden«, hob er hervor.
Der Vorsitzende der Substitutions-Kommission der KV Sachsen-Anhalt verwies zudem auf den aktuellen Corona-Hilferuf der Drogen-, Aids- und Suchthilfe, der deutlich macht, dass sich ihre ambulanten Einrichtungen bereits jetzt mit existenziellen Krisensituationen von Drogenkonsumenten und Wohnungslosen konfrontiert sehen.
Infolge des täglich zunehmenden Versorgungs-Engpasses bei illegalen psychoaktiven Wirkstoffen in Großstädten wie Hamburg seien die Preise für illegale Opioide und abgezweigte Substitutionsmedikamente stark angezogen. »Betteln, Flaschensammeln, Obdachlosen-Magazine verkaufen: Herkömmliche Einkommensquellen für in prekären Verhältnissen lebende Drogenkonsumierende fallen weg«, konstatierte auch Meyer-Thompson. Eine Vielzahl von Drogenkonsumenten sei der Gefahr lebensbedrohlich verlaufender Entzugssituationen ausgesetzt.
Für Drogensüchtige werde die Pandemie mehr und mehr zur Existenzfrage – zumal viele der Konsumenten aufgrund von Begleiterkrankungen ohnehin zu den Covid-19-Risikogruppen zählen. Es müssten dringend Möglichkeiten der Unterstützung und Entzugsbegleitung sowie der temporären Substitutionsbehandlung für absolute Notfälle und hier insbesondere für nicht versicherte und obdachlose Drogenkonsumenten geschaffen werden. »Schnelle Maßnahmen zur Entlastung der Szene sind unabdingbar«, forderten auch Meyer-Thompson und Jeschke.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.