Medikationsplan für alle Frauen im gebärfähigen Alter |
Daniela Hüttemann |
12.08.2021 14:18 Uhr |
»Die grundsätzliche Verordnung von Teratogenen vor einer Schwangerschaft ist nicht das Problem, vor allem dann nicht, wenn verhütet wird«, sagte Straub. »Spätestens mit Eintritt der Schwangerschaft darf aber kein Teratogen mehr zum Einsatz kommen. Genau genommen muss der Schutz des ungeborenen Kindes bereits davor beginnen.«
Deshalb sollten alle Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauermedikation einen Rechtsanspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) erhalten. »Und zwar schon ab dem ersten Medikament«, so der Barmer-Chef. Bislang haben gesetzlich Versicherte einen rechtlichen Anspruch auf einen BMP, wenn sie dauerhaft drei oder mehr Medikamente verordnet bekommen. Ein BMP ab dem ersten Medikament im Dauergebrauch würde immerhin 20 Prozent der Versicherten betreffen – knapp zwei Millionen Frauen und Mädchen allein bei der Barmer. Laut Arzneimittelreport haben von diesen 65,1 Prozent vor der Schwangerschaft mindestens ein Medikament verordnet bekommen.
Die Gesamtmedikation sollte dann regelmäßig vor und während der Schwangerschaft bezüglich des teratogenen Risikos geprüft werden. Jetzt sei der richtige Zeitpunkt für die Implementierung, denn die technische Grundlage sei nun da, so Straub. Der elektronische Medikationsplan sei bereits Teil der elektronischen Patientenakte (EPA), die die Barmer ihren Versicherten seit Jahresbeginn anbiete. Seit Jahresmitte würden die Ärzte angebunden.
Laut Barmer-Auswertung haben im Jahr 2018 7,8 Prozent der 13- bis 49-jährigen Frauen unter Arzneimitteltherapie ein potenziell teratogenes Medikament bekommen – das waren fast 154.000 Frauen. 133.000 erhielten einen als schwach teratogen eingestuften Arzneistoff, 15.793 ein gesichertes Teratogen und 11.291 ein unzweifelhaft starkes Teratogen.
Grundsätzlich sollten bei Frauen im gebärfähigen Alter wenn möglich nicht teratogene Alternativen gewählt werden. Ansonsten muss der verordnende Arzt über die Risiken und effektive Verhütungsmethoden aufklären. »Es ist nicht möglich und nicht sinnvoll, grundsätzlich auf alle bei Anwendung in der Schwangerschaft risikobehafteten Arzneimittel zu verzichten«, räumt Grandt ein. Viele von ihnen hätten ein exzellentes Nutzen-Risiko- Verhältnis außerhalb der Schwangerschaft. »Nicht nur möglich, sondern erforderlich ist aber, dass sichergestellt wird, dass die Behandlung mit einem potenziellen Teratogen nach Eintritt einer Schwangerschaft unverzüglich beendet wird.«
Bei Kinderwunsch sollte die Betroffene rechtzeitig mit ihrem Facharzt über das Absetzen sprechen. »Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte passen die Arzneimitteltherapie an die Schwangerschaft zwar sehr wohl an. Das belegen die zurückgehenden Verordnungszahlen von Teratogenen«, so Grandt. Allerdings lägen die Absetzquoten bei den besonders kritischen Präparaten lediglich zwischen 31 und 60 Prozent (siehe Kasten). Das sei viel zu wenig.
Das Risiko für grob strukturelle Fehlbildungen im ersten Trimenon liegt ohne Arzneimitteltherapie bei etwa 3 Prozent – drei von hundert Kindern kommen also rein statistisch mit einer Fehlbildung auf die Welt. Nimmt eine Frau im ersten Schwangerschaftsdrittel ein schwach teratogenes Arzneimittel ein, steigt das Risiko auf 4 Prozent, bei gesicherten Teratogenen auf bis zu 10 Prozent und bei unzweifelhaft starken Teratogenen auf bis zu 30 Prozent. Die Verordnungszahlen zeigen, dass zu selten abgesetzt wird: Von 1295 Verordnungen schwacher Teratogene im Quartal vor der Schwangerschaft auf 612 im ersten Trimenon (minus 53 Prozent), von 81 gesicherten Teratogenen auf 32 (minus 60 Prozent) und von 29 unzweifelhaft starken Teratogenen auf 20 (minus 31 Prozent).
»Die weitere Verordnung mag im ein oder anderen Fall notwendig sein, doch unsere Zahlen lassen vermuten, dass das teratogene Risiko nicht bedacht wurde und somit ein Medikationsfehler vorliegt«, sagte Straub. »Wir müssen Mechanismen einführen, damit teratogene Medikamente rechtzeitig abgesetzt werden«, ergänzte Grandt.