»Man hat uns den Entwurf vor die Füße geworfen« |
Cornelia Dölger |
14.09.2022 14:28 Uhr |
Mit Vehemenz äußerte sich die ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening zu dem Gesetzentwurf, der die Apotheker in jüngster Zeit wohl am tiefsten getroffen hat: das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. / Foto: PZ/Alois Mueller
Angesichts von zahlreichen schweren Krisen, in denen sich die Welt derzeit befindet, überraschte ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening am heutigen Mittwoch, als sie ihrem Lagebericht zum Auftakt des 57. Deutschen Apothekertags das Motto »Zuversicht« verlieh. Zuversicht entstehe immer dann, »wenn wir selbst das Heft des Handelns in die Hand nehmen«, wenn etwa wie beim Fußballspielen Chancen herausgearbeitet und ergriffen würden. Im Laufe ihrer Rede ging Overwiening an verschiedenen Stellen auf das Credo ein.
Offizielles Leitthema des diesjährigen Apothekertreffens ist allerdings: »Klimawandel, Pharmazie und Gesundheit«. Nachhaltigkeit und Apotheken – das passt zusammen, wie Overwiening ausführte. So seien die 17 globalen Nachhaltigkeits-, Klima- und Umweltziele der Vereinten Nationen in der Bandbreite der zahlreichen Anträge für den diesjährigen Apothekertag abgedeckt. »Dass sich Deutschland bereits früh zu einer ambitionierten Umsetzung bekannt hat, unterstützen wir Apothekerinnen und Apotheker mit Nachdruck«, so die ABDA-Präsidentin, nicht zuletzt weil die Folgen des Klimawandels auch »unser aller Gesundheit« bedrohten.
In den vergangenen zwei Pandemiejahren »haben wir alle diesen Wirkmechanismus, dieses Herausspielen von Chancen durch unsere Anstrengung, durch unsere Kreativität und diese Form der Selbstwirksamkeit auf ganz besondere Weise erlebt«, sagte Overwiening und dankte an der Stelle den rund 18.000 Apothekenteams für ihren Einsatz zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie. »Sie alle haben 2020 und 2021 Großartiges geleistet und 2022 unbeirrt damit weitergemacht.«
Für Apotheken erwachse daraus eine Verantwortung, »etwas für die Gesundheit unseres Planeten zu tun«, zitierte Overwiening aus dem Buch »Die nachhaltige Apotheke« von Esther Luhmann. Da sich ein Großteil der Anträge mit Nachhaltigkeit beschäftige, sei sie sicher, dass das Thema bei den dreitägigen Beratungen des Apothekertags »mit viel Inhalt gefüllt werde«.
Es gelte, die bewährte wohnortnahe Arzneimittelversorgung, die – getreu dem diesjährigen Leitthema – »ein ganz besonderes Ökosystem innerhalb unseres Gesundheitssystems« darstelle, zu erhalten, und zwar nicht mit Lobgesängen und Applaus, sondern mit »verlässlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen«. Im Biotop Arzneimittelversorgung vor Ort werde Geld gegen eine gute Gesundheitsversorgung getauscht, ganz im Aristotelischen Sinne, wonach Geld allein Mittel zum Zweck ist. »Schließlich ist Gesundheit mehr wert als Geld. Wir schaffen in der Apotheke also einen Mehrwert«, folgerte Overwiening.
Diesen Mehrwert habe die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vor gut 20 Jahren torpediert, etwa mit der Preisfreigabe für OTC-Arzneimittel und mit der Einführung des Versandhandels. »Das war nicht die erhoffte Belebung für unser Biotop, das waren keine Vitaminspritzen, sondern langsam und bis heute wirkende Giftspritzen.«
Die Vorgängerregierung der Ampel habe es versäumt, das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Versandhandelsverbot für Rx-Arzneien umzusetzen, so Overwiening. Durch das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz sei es zwar ansatzweise gelungen, »die Übergriffigkeit ausländischer und kapitalgesteuerter Arzneimittelversender durch ein Boni-Verbot zu begrenzen«. Es bleibe aber dabei: »Ich bin fest davon überzeugt, dass börsennotierte Unternehmen grundsätzlich nichts auf dem Feld der wohnortnahen Arzneimittelversorgung zu suchen haben«, sagte Overwiening unter Applaus. Dieses Gut müsse vor Kapitalinteressen geschützt werden, besonders angesichts der Digitalisierung.
Emotional und mit Vehemenz äußerte sich die ABDA-Chefin zu dem Gesetzentwurf, der die Apotheker in jüngster Zeit wohl am tiefsten getroffen hat: das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Diesen Entwurf »vor die Füße geknallt« zu bekommen und damit die von den Apothekerinnen und Apothekern während der Pandemie erbrachten Leistungen »in ihrem einmaligen Ertrag solidarisieren zu wollen, werden wir nicht tolerieren«, betonte Overwiening. Dazu gab es Applaus von den Delegierten.
Freilich müsse der Finanzkrise des Gesundheitssystems politisch begegnet werden. »Es ist daher keineswegs ehrenrührig, sondern ein Gebot finanzpolitischer Vernunft, in dieser Phase ein Gesetz zur Sicherung der GKV-Finanzen auf den Weg zu bringen«, so Overwiening. Die Apothekerschaft, der laut dem Entwurf ein für zwei Jahre auf zwei Euro erhöhter Kassenabschlag ins Haus steht, dabei aber nicht anzuhören, habe »uns massiv verstört und verärgert«.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe ihr vergangene Woche bei einem Treffen im Bundesgesundheitsministerium (BMG) – dem ersten seit Lauterbachs Amtsantritt vor gut neun Monaten – versichert, dass die Apotheken künftig in Gesetzespläne einbezogen würden. »Wir bringen aus dem Gespräch die Zusage mit, dass Politik zukünftig mit uns Apothekerinnen und Apothekern über Veränderungen beraten wird und nicht über uns hinweg entscheidet.«
Die Sparpläne des BMG – in den Jahren 2023 und 2024 will Lauterbach im Apothekensektor jeweils gut 120 Millionen Euro einsparen – seien »eine Bestrafung für erbrachte Leistungen«, die demoralisiere und destabilisiere, kritisierte Overwiening. Mehr noch: »Sie zerstört auch die Bereitschaft, wenn wir zukünftig weiterhin und möglicherweise mehr Problemlöserinnen und Problemlöser für die Politik sein sollen.« Durch die Übernahme von zahlreichen Sonderaufgaben hätten die Apotheken entscheidend dazu beigetragen, Deutschland gut und sicher durch die Pandemie zu bringen. »Jetzt können, wollen und müssen wir uns endlich wieder unseren Kernaufgaben zuwenden«, sagte Overwiening.
Insofern seien die Pläne nicht nur phantasielos, sondern sie setzten zudem an einem Punkt an, »an dem es nichts mehr zu sparen, nichts mehr zu holen gibt«. Der Fixbetrag pro Rx-Arzneimittel sei vor mehr als neun Jahren zum letzten Mal angehoben worden. Auf weitere Vergütungsanpassungen hätten die Apotheken seit 2013 verzichten müssen. Dass nun auch noch der Apothekenabschlag zeitweise auf zwei Euro steigen solle, sei »die nächste Giftspritze für unser Biotop der Arzneimittelversorgung«.
Die Apothekenvergütung durch die GKV befinde sich seit Jahren im Sinkflug, so Overwiening weiter. Er sei durch die Coronamaßnahmen lediglich verschleiert worden, keinesfalls gestoppt. Insofern sei die Mär, »wir hätten in den Pandemiejahren 2020 und 2021 gute Gewinne in den Apotheken erzielt, dann könnten wir in den nächsten zwei Jahren auch Einbußen hinnehmen«, nicht hinnehmbar. »Ein solcher Denkansatz ist ebenso unerhört wie oberflächlich und ganz sicher nicht nachhaltig.« Dass die Politik gleichzeitig hohe Investitionen in sogenannte Gesundheitskioske tätigen wolle, sei pure Geldverbrennung. »Statt jährlich so viel Geld in die Etablierung einer überflüssigen Parallelstruktur zu investieren, wäre es klüger, bestehende, niederschwellige Strukturen wie Apotheken zu stärken.«
An diesem Freitag berät der Bundesrat erstmals über das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – diese Gelegenheit sollte ergriffen werden, um sich gegen die Erhöhung des Kassenabschlags auszusprechen, forderte Overwiening. Anfang September hatte sich der Gesundheitsausschuss der Länderkammer mit dem Gesetz auseinandergesetzt und dem Plenum empfohlen, die Erhöhung des Kassenabschlags abzulehnen. Das Vorhaben ist nicht zustimmungspflichtig, die Länder können das Gesetz im Bundesrat also zwar nicht blockieren, aber eine starke Gegenmeinung äußern.
Als einen »echten Quantensprung« für die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) bezeichnete die ABDA-Chefin die in diesem Jahr eingeführten vergüteten pharmazeutischen Dienstleistungen. »Quantensprung« insofern, als »wir als Apothekerinnen und Apotheker erstmals im unmittelbaren Kontakt mit den Patientinnen und Patienten Dienstleistungen für diese auslösen, die von allen Kassen honoriert werden«. Das sei »ein Einstieg in eine völlig neue Welt.« Die Arzneimittelversorgung werde dadurch umfassender, fürsorglicher und sicherer. »Wir haben es jetzt in der Hand, diese Tür sukzessive weiter aufzustoßen.«
Denn die ersten fünf honorierten Dienstleistungen – die Erfolgskontrolle bei Bluthochdrucktherapie, die Betreuung von Patientinnen und Patienten nach Organtransplantation sowie unter oraler Antitumortherapie, Schulungen zu Inhalativa und die Analyse und intensivierte Beratung bei Polymedikation – seien »nur ein kleiner Auszug aus einem umfassenden Katalog an versorgungssichernden Dienstleistungen, den wir erarbeitet haben«. In Anlehnung an das Motto ihres Lageberichts erinnerte Overwiening daran, dass es auch ein Ergebnis jahrzehntelanger Zuversicht sei, dass die Angebote nun tatsächlich gemacht werden könnten.
Umso schwerer wiegen zwei Reaktionen auf diese Entwicklung: zum ersten die GKV-Klage gegen den gerade erst errungenen Schiedsspruch, ohne den die pharmazeutischen Dienstleistungen gar nicht hätten etabliert werden können. Overwiening forderte: »Wir erwarten vom GKV-Spitzenverband, dass er endlich die dafür bereitgestellten Beitragsgelder seiner Versicherten auch für deren Gesundheit investiert.«
Als zweiten Wermutstropfen nannte die ABDA-Chefin die teils harsche Ablehnung der Ärzte gegenüber den neuen pharmazeutischen Dienstleistungen. Sie dürften nicht dazu führen, »dass Teile der Ärzteschaft uns daraufhin mit martialischer Wortwahl die Freundschaft aufkündigen, Hetzkampagnen gegen uns in Richtung der Versicherten auflegen oder für sich das Dispensierrecht fordern«. Das »absurde öffentliche Hetzen« belaste das Vertrauen der Menschen in die Gesundheitsberufe. Gefragt sei vielmehr »ein Mindestmaß an Anstand« in der Rhetorik, selbst wenn sich wie etwa im KV-Bezirk Hessen einige Ärzte im Wahlkampfmodus befänden.
Aber auch hier: Zuversicht sei angebracht. Im Versorgungsalltag bestehe nämlich durchaus ein heilberufliches Miteinander, das letztlich in dem Credo münde: »Gemeinsamkeit macht stark, erfolgreich und dient – das ist der Auftrag des freien Heilberufs – dem Gemeinwohl«. Angesichts der Tatsache, dass der weitere Ausbau der pharmazeutischen Dienstleistungen im Ampel-Koalitionsvertrag festgeschrieben sei, freue sie sich hierbei auf eine öffentliche Rückendeckung, so Overwiening.
Bei dem Austausch mit Minister Lauterbach kam auch das Thema Paxlovid-Abgabe in Arztpraxen auf – auch Overwiening griff das rote Tuch Dispensierrecht in ihrem Lagebericht auf. Von der entsprechenden Verordnung seien die Apotheker »überrollt« und »in Alarmbereitschaft versetzt« worden. Es gebe keinen sachlichen Grund, das Covid-19-Therapeutikum aus Arztpraxen heraus abzugeben, der bisherige und nach wie vor bestehende Vertriebsweg über die Apotheken garantierte eine schnelle, sichere und zuverlässige Versorgung aller Patientinnen und Patienten mit antiviralen Arzneimitteln.
Dennoch werde das Mittel verhalten eingesetzt – wofür es ausschließlich medizinische Gründe gebe. Diese bestünden natürlich weiter, auch wenn Ärzte das Mittel selbst abgeben dürften. »Die aus gutem Grund bestehende und bewährte Trennung zwischen ärztlicher und pharmazeutischer Tätigkeit darf nicht aufgehoben werden. Das ist gefährlich.« Um so dankbarer sei sie, dass Lauterbach bei dem Gespräch versichert habe, mit Paxlovid sei nicht der Startschuss für ein generelles Dispensierrecht für Ärzte gefallen, bemerkte Overwiening und setzte nach: »Wir freuen uns sehr, dass der Minister hier so klare und deutliche Worte gefunden hat.«
Seit Anfang September läuft die schrittweise Einführung des E-Rezepts – Anlass für Overwiening, in ihrer Rede an einen Ortstermin der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt in einer Apotheke in Düren in Nordrhein-Westfalen vor 20 Jahren zu erinnern. Damals hatte die SPD-Politikerin anlässlich eines Feldversuchs zum E-Rezept bilanziert: »Das E-Rezept, es funktioniert.«
20 Jahre später und noch immer »Digitalisierungs-Schlusslicht in Europa«, hat Deutschland den Start nun geschafft. Für Overwiening ist das ein Grund für weitere Zuversicht. Dass etwa in der Modellregion Westfalen-Lippe ein sehr großer Teil der Apotheken zum Starttermin E-Rezept-ready gemeldet war, zeige ihr: »Wir sind bereit, bereit fürs E-Rezept.« Anders als viele andere Akteurinnen und Akteure seien Apotheker aktiv und konstruktiv dabei, wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen gehe. »Wir Apothekerinnen und Apotheker unterstützen das E-Rezept, auch wenn es mit zahlreichen Anstrengungen und Mühen verbunden ist, und obwohl auch Gefahren davon ausgehen, wenn die Politik nicht achtsam und nachhaltig die Rahmen setzt.« Es gelte, die Chancen des E-Rezepts zu heben, wofür unter anderem nötig sei, dass die digitalen Verordnungen fehlerfrei, ohne Unklarheiten und ohne Retax-Risiken in die Apotheken gelangten.
Damit habe das E-Rezept das Potenzial, ein »echtes Gewinnerthema für die Gesundheitsversorgung« zu werden. Zudem müsse die Hoheit über das E-Rezept bei der Patientin und dem Patienten verbleiben. Dabei gehe es auch um Datenschutz – ein Grund, warum die Landesdatenschützer der Idee der KV Schleswig-Holstein, die E-Rezept-Übermittlung per SMS oder E-Mail zu ermöglichen, zu Recht ein Ende gesetzt hätten. »Diese Spontanlösungen sind aus der Warte des Verbraucherinnen- und Verbraucherschutzes sowie des Datenschutzes der größtmögliche Unfug.«
Vielmehr müssten Politik, Ärzteschaft und Krankenkassen dabei bleiben, »dass in der digitalen Welt nur erlaubt wird, was auch in der analogen Welt rechtens ist. Hier ist Sensibilität für den ordnungspolitisch notwendigen Rahmen von allergrößter Wichtigkeit«, sagte die ABDA-Präsidentin. Hierzu forderten die Apotheker eindringlich auf.
Auch hier bedürfe es einiger Zuversicht, um dem Projekt E-Rezept Flüge wachsen zu lassen, resümierte Overwiening und zitierte den Erfinder des ewig kindlichen Peter Pan, Sir Sir James Matthews: »Der Grund, warum Vögel fliegen können und wir nicht, ist der, dass sie voller Zuversicht sind, und wer zuversichtlich ist, dem wachsen Flügel.« Mit Zuversicht könnten Apothekerinnen und Apotheker Apothekerinnen und Apotheker »es beflügeln, wie bei allem, was wir in den letzten Jahrhunderten, Jahrzehnten und Jahren geleistet haben, aus heilberuflicher Verpflichtung und Verantwortung, mit intrinsischer Motivation und klarem Blick für eine sichere digital gestützte Arzneimittelversorgung über unsere Apotheken«.