Lernen von der Apfelschnecke |
Theo Dingermann |
11.08.2025 17:00 Uhr |
Die Süßwasserschnecke Pomacea canaliculata besitzt Kameraaugen ähnlich wie die des Menschen und kann diese bei Schäden regenerieren. / © Getty Images/NagyDodo
Die Gefurchte Apfelschnecke (Pomacea canaliculata) besitzt bemerkenswerte Eigenschaften. Sie hat ein Kameraauge wie auch der Mensch. Aber ganz anders als dieser kann die Schnecke ein amputiertes Auge komplett regenerieren. Laut einer aktuellen, im Fachjournal »Nature Communications« veröffentlichten Studie ist es erstmals gelungen, mithilfe der kleinen Süßwasserschnecke ein Regenerationsmodell für Kameraaugen zu etablieren. Im besten Fall können so die versteckten Prinzipien der Regeneration von irreversiblen Augenschäden beim Menschen erforscht werden. Davon könnten beispielsweise Millionen älterer Patienten profitieren, die an einem Glaukom, dem Grünen Star, leiden.
Ein Team um Professorin Dr. Alice Accorsi von der University of California, Davis, wies mithilfe einer Kombination aus anatomischen, mikroskopischen und genomischen Analysen nach, dass die Augen der Apfelschnecke anatomisch und genetisch den menschlichen Augen ähneln. Beispielsweise besitzen die Schnecken viele Gene, die in analoger Form auch beim Menschen vorkommen und hier an der Entwicklung des Auges beteiligt sind.
Der Unterschied zum Menschen besteht darin, dass dieses Gennetzwerk bei der Schnecke im Falle einer Verletzung des Auges dahingehend aktiviert werden kann, dass sich ein nahezu identisches neues Sehorgan bildet.
Das dauert etwa einen Monat, und der Prozess ist in mehreren Phasen unterteilt, konnte das Team beobachten. In einer ersten Phase nach einer Amputation des Auges kam es zur Wundheilung, und unspezialisierte Zellen wanderten in das Wundgebiet ein, wo diese Zellen sich vermehrten. Nach etwa anderthalb Wochen begannen sich diese Zellen dann zu spezialisieren, und es bildeten sich Augenstrukturen wie die Linse und die Netzhaut. Am 15. Tag nach der Augenamputation waren alle Strukturen des Auges wieder vorhanden, einschließlich des Sehnervs, wobei diese Strukturen noch mehrere Wochen lang weiterwuchsen und reiften.
Was in dieser Zeit molekular abläuft, ist gewaltig. So sind während des Regenerationsprozesses unmittelbar nach der Amputation etwa 9000 Gene aktiv, die im Vergleich zu normalen adulten Schneckenaugen unterschiedlich stark exprimiert werden. Nach 28 Tagen sind noch 1175 Gene im regenerierten Auge unterschiedlich exprimiert, was darauf hindeutet, dass die Augen zwar nach einem Monat vollständig entwickelt aussehen, die vollständige Reifung jedoch länger dauern könnte.
Um die Funktionen dieser Gene zu verstehen, schalteten die Forschenden einzelne Gene gezielt mithilfe der molekularen Genschere CRISPR/Cas aus. Wurden etwa beide Kopien des Homöobox-Gens pax6 inaktiviert, bildeten sich weder Augenstiel noch Retina aus. Pax6 ist ein gewebespezifischer Transkriptionsfaktor, der beim Menschen beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Auge, Nase und ZNS spielt.
Heterozygote und Wildtyp‐Tiere entwickelten sich allerdings normal, was zeigt, dass bereits eine Kopie des pax6-Gens die entscheidenden Funktionen bei der Initiation des Augenentwicklungsprogramms aufrechterhalten kann.
Damit ist ein Anfang gemacht. Die Arbeit des Teams um Accorsi zeigt, dass sich mit P. canaliculata neue Möglichkeiten auftun, die genetischen Grundlagen komplexer Organregeneration zu erforschen. Ob sich dieses Wissen dann klinisch nutzen lässt, müssen viele weitere Studien zeigen. Der medizinische Bedarf ist jedenfalls groß.