Jegliche Blutung verhindern |
Kerstin A. Gräfe |
11.08.2022 07:00 Uhr |
Momentan müssen Patienten mit Hämophilie noch regelmäßig Faktorpräparate infundieren. Es besteht Hoffnung, dass das zukünftig dank Gentherapien nicht mehr notwendig sein wird. / Foto: Adobe Stock/blindturtle
Der Blutgerinnungsstörung Hämophilie A oder B liegt ein X-chromosomal vererbter Mangel der Gerinnungsfaktoren VIII (Hämophilie A) oder IX (Hämophilie B) zugrunde. Die Folge ist eine erhöhte Blutungsneigung. Je nach Restaktivität des jeweiligen Gerinnungsfaktors gilt die Erkrankung als schwer (< 1 Prozent Restaktivität), mittelschwer (1 bis < 5 Prozent) oder mild (5 bis 40 Prozent).
Patienten mit schwerer oder mittelschwerer Ausprägung entwickeln ohne eine prophylaktische Therapie spontane Blutungen, vor allem in den Gelenken und der Muskulatur. Mehrfache Blutungen führen zur Gelenkentzündung (Synovitis) und letztlich zur Arthrose, der sogenannten hämophilen Arthropathie. Diese äußert sich in chronischen Schmerzen, Gelenkdeformität und einer eingeschränkten Mobilität. Hingegen erleiden Patienten mit milder Hämophilie Blutungen meist nur bei Operationen oder Verletzungen, selten sind die Gelenke betroffen.
Die derzeitige prophylaktische Therapie habe das Ziel, jegliche Blutungen zu verhindern, um den Betroffenen ein voll integriertes, aktives Leben zu ermöglichen, schreibt Dr. Katharina Holstein vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in ihrem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der DPhG-Zeitschrift »Pharmakon«. Um die Therapie individuell anzupassen und mit dem Patienten abzustimmen, seien dabei die individuelle Pharmakokinetik, der Blutungsphänotyp, Vorschädigung der Gelenke sowie Verhalten und Aktivität zu berücksichtigen.
»Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. / Foto: Avoxa
Mit der Entwicklung der ersten aus Plasma hergestellten Faktor-VIII- oder Faktor-IX-Konzentrate in den 1970er-Jahren konnten Lebenserwartung und Morbidität der Betroffenen deutlich verbessert werden. Gedämpft wurde dieser Therapiefortschritt durch die massive Übertragung von HIV und Hepatitis. Zwar gilt heutzutage das Risiko einer Infektionsübertragung durch Gerinnungsfaktorkonzentrate als nivelliert, doch ist die Substitutionstherapie mit einer gravierenden Nebenwirkung behaftet: die Bildung von Hemmkörpern gegen das eingesetzte Faktorpräparat. Diese neutralisieren den injizierten Faktor und verhindern dadurch dessen Wirkung. Bei schwerer Hämophilie A liegt das Risiko einer Hemmkörperbildung etwa bei 25 bis 30 Prozent.
Seit 2016 sind in Deutschland rekombinante Faktorkonzentrate mit verlängerter Halbwertszeit verfügbar (siehe Tabelle). Gelungen ist die Verlängerung unter anderem durch PEGylierung oder Konjugation mit Albumin sowie dem Fc-Fragment von Immunglobulinen. Insbesondere bei der Hämophilie B haben die Faktorkonzentrate mit verlängerter Halbwertszeit die mit Standardhalbwertszeit nahezu verdrängt, da mit ihnen die Belastung der Patienten verringert und die Compliance verbessert werden können. Auch bei der Hämophilie A setzen sich die Faktorkonzentrate mit der leicht verlängerten Halbwertszeit zunehmend durch, insbesondere seitdem die Kosten dieser Präparate gesunken sind.
Name | Methode | Jahr der 1. Zulassung | Halbwertszeitverlängerung |
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Faktor VIII | |||
Efmoroctocog alfa | Fc-Fusionsprotein | 2014 | 1,5 – 1,7 |
Rurioctocog alfa pegol | PEGylierung | 2015 | 1,3 – 1,5 |
Lonoctocog alfa | Einzelkettentechnologie | 2017 | 1,2 – 1,3 |
Damoctocog alfa pegol | PEGylierung | 2018 | 1,6 |
Turoctocog alfa pegol | PEGylierung | 2019 | 1,6 |
Faktor IX | |||
Eftrenonacog alfa | Fc-Fusionsprotein | 2014 | 4,3 |
Albutrepenonacog alfa | Albumin-Fusionsprotein | 2016 | 5,3 |
Nonacog beta pegol | PEGylierung | 2018 | 4,9 |
Für Hämophilie-A-Patienten mit und ohne Hemmkörperbildung steht außerdem eine nicht faktorbasierte Therapie zur Verfügung: Emicizumab ist ein bispezifischer Antikörper, der die Wirkung von aktiviertem Faktor VIII als Kofaktor imitiert, indem er phospholipidabhängig an aktivierten Faktor IX und Faktor X bindet. Dies führt zur Aktivierung von Faktor X und dem Fortschreiten des Gerinnungsprozesses. Emicizumab wird subkutan appliziert und hat eine lange Halbwertszeit. Nach einer Aufsättigungsphase werden stabile Spiegel erreicht. In den klinischen Studien waren die Blutungsraten gering und 55 bis 90 Prozent der Patienten hatten keine behandlungsbedürftigen Blutungen.
In der Entwicklung sind zudem Medikamente, die durch Hemmung der körpereigenen Gerinnungsinhibitoren wie Antithrombin, Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) und Protein C in das Gerinnungssystem eingreifen und durch Verbesserung des Gleichgewichts eine gerinnungsfördernde Wirkung haben. Derzeit werden zum Beispiel gegen TFPI die beiden Antikörper Concizumab und Marstacimab in Phase-III-Studien getestet.
Ein weiterer Ansatz nutzt das Prinzip der RNA-Interferenz (RNAi): Fitusiran richtet sich gegen Antithrombin. Da es sich bei diesen Substanzen um einen Eingriff in das Gerinnungsgleichgewicht handelt, ohne einen spezifischen Gerinnungsfaktor zu ersetzen oder zu imitieren, können sie auch bei Hämophilie B mit oder ohne Hemmkörper eingesetzt werden und potenziell auch bei anderen schweren Gerinnungsstörungen, die zu erhöhter Blutungsneigung führen.
Des Weiteren stehen die ersten Präparate zur Gentherapie (zum Beispiel Valoctocogen roxaparvovec von Biomarin) kurz vor der Zulassung. Angesichts der Entwicklung neuer, komplexer Therapien sollte die Betreuung von Hämophiliepatienten in dafür spezialisierten Zentren erfolgen, um auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmte, geeignete Behandlungen auszuwählen.