Politik
Serie Selbstmedikation X

In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung des Instituts für
Gesundheitssystemforschung Kiel stimmten fast 84 Prozent aller
Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung der Aussage zu,
"daß trotz eines zunehmenden Anteils älterer Menschen mit einer
vergleichsweise kostenintensiven medizinischen Versorgung und des
medizinischen Fortschritts die Beiträge zur gesetzlichen
Krankenversicherung nicht steigen dürfen".
Dieses demoskopische Ergebnis verdeutlicht das Dilemma der Gesundheitspolitik.
Auf der einen Seite sind die Bedürfnisse nach neuen und teuren
Gesundheitsleistungen praktisch unbegrenzt. Auf der anderen Seite stößt aber die
Zahlungsbereitschaft dafür zunehmend an ihre Grenzen. Vor diesem Hintergrund
stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Selbstmedikation hier leisten kann.
Der Markt der vom Patienten selbst gekauften rezeptfreien Arzneimittel wies 1996
ein Umsatzvolumen von 8,6 Milliarden DM auf. Die 675 Millionen verkauften
Selbstmedikationspackungen entsprachen einem Anteil von knapp 40 Prozent aller
1996 in Deutschland abgesetzten Arzneimittelpackungen. Aufgrund der
vergleichsweise niedrigen Durchschnittspreise dieses Marktsegments lag der
Umsatzanteil mit 18 Prozent deutlich unter diesem Wert. Die Analysen
zurückliegender Entwicklungen haben gezeigt, daß der Marktanteil selbst gekaufter
Arzneimittel in erster Linie durch die staatliche Gesundheitspolitik beeinflußt wird.
Für Patienten, die unter Befindlichkeitsstörungen oder leichten Gesundheitsstörungen
leiden, steht grundsätzlich die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen
Selbstbehandlung oder die Inanspruchnahme einer Arztbehandlung offen.
Bevölkerungsbefragungen des BAH zeigen, daß in der Praxis neben der
nichtmedikamentösen Selbstbehandlung die Selbstbehandlung mit rezeptfreien
Arzneimitteln (SM) oder die ärztliche Verordnung solcher Präparate (OTX) von
Bedeutung sind.
Kosteneinflußfaktoren und Interdependenzen
Die Entscheidung der Patienten für eine Arztbehandlung oder die Selbstmedikation
verursacht unterschiedliche medizinische und volkswirtschaftliche Kosten. Die
wichtigsten Kosteneinflußfaktoren, die im Hinblick auf die Frage, ob rezeptfreie
Arzneimittel ärztlich verordnet oder selbst gekauft werden, von Relevanz sind, finden
sich in der folgenden Aufstellung:
- Direkte Kosten (medizinische Kosten): Diagnostik (Selbstdiagnose,
Arztdiagnose), Arzneimitteltherapie, nicht medikamentöse Therapie, ärztliche
Leistungen, Laienbehandlung, Präventionsverhalten, Folgen der
Fehlanwendung, unerwünschte Arzneimittelwirkungen.
- Indirekte Kosten (volkswirtschaftliche Kosten): Arbeitsausfall durch
Arztbesuch, Arbeitsunfähigkeit (Krankschreibung), Beeinflussung der
individuellen Arbeitsleistung (Produktivität), Beeinflussung der
volkswirtschaftlichen Arbeitsleistung, Transaktionskosten (Transport-, Zeit-
und Wegekosten), Beitragssatzentlastung für die GKV, Rezeptgebühren.
Zuzahlung, Verwaltungsleistungen der Krankenkassen (Arztabrechnung,
Rezeptabrechnung), Verwaltungs- und Abrechnungsleistungen der Apotheke
(Rezepttaxierung und Abrechnung beziehungsweise Kosten für
Arzneimittelrechenzentren), Krankenkassenrabatt nach § 130 SGB V,
Allokation knapper Ressourcen im Gesundheitswesen,
beschäftigungspolitische, konjunkturelle und marktstrukturelle Einflüsse.
- Intangible Kosten (ohne objektivierbaren Geldwert): Beschwerdezeit,
Behandlungsdauer, Ausprägung der Symptome.
Eigenverantung/Selbstbestimmung, Beratungsqualität, Angst/psychologische
Hemmnisse, entgangene Freizeit.
Berechnungen zu direkten und indirekten Kosten
Es ist realistisch anzunehmen, daß schon durch verhältnismäßig leichte Änderungen
der Rahmenbedingungen ein "Steuerungsvolumen" von 10 Prozent aller rezeptfreien
Arzneimittelpackungen realisiert werden kann.
Dazu einige Berechnungen, die sich beispielhaft auf den Fall beziehen, daß ein
Zehntel aller rezeptfreien Arzneimittel aus dem Verordnungsmarkt in den
Selbstmedikationsbereich oder umgekehrt wandern: Ein Vergleich direkter und
indirekter Kosten zeigt, daß die Arzneimittelausgaben der GKV durch die
Einsparung von 100 Million Verordnungen um etwa 1,2 Milliarden DM sinken. Die
eingesparten Ausgaben für die ärztliche Behandlung, die mit der Verordnung von
100 Millionen Arzneimittelpackungen einhergehen, belaufen sich auf 3,1 Milliarden
DM. Insgesamt verringern sich damit die GKV-Ausgaben um 4,3 Milliarden DM.
Die Patienten werden zunächst durch den Selbstkauf der entsprechenden
Arzneimittel mit Ausgaben von 1,6 Milliarden DM belastet. Diese Ausgaben führen
allerdings nur vordergründig zu einer Mehrbelastung der privaten Haushalte.
Auf seiten der indirekten Kosten sind die Arbeitsausfälle durch Arztbesuche zu
beachten, die sich auf etwa 26 Millionen Stunden pro Jahr mit einem
Produktionsausfall im Wert von 1,3 Milliarden DM belaufen. Nicht zu
vernachlässigen sind auch die Zeitaufwendungen auf seiten der Ärzte und Patienten,
die durch die zusätzlichen Arztbesuche zur Erlangung von 100 Millionen
Verordnungen entstehen. Während die Ärzte hierfür zusätzliche 16 Millionen
Stunden pro Jahr aufwenden müssen, dies entspricht pro Hausarzt etwa einem
zusätzlichen Arbeitsaufwand von einer Stunde pro Tag, haben die Patienten inklusive
der Wege- und Wartezeiten etwa 78 Millionen Stunden pro Jahr aufzuwenden.
Wenn pro Kopf und Jahr Arzneimittel im Wert von 110 DM durch
Selbstmedikation substituiert werden, führt das zu GKV-Einsparungen von rund 22
Milliarden DM, zu einer Beitragssatzentlastung von etwa 1,5 Prozentpunkten und
damit zu einer Verringerung des Arbeitnehmerbeitrages von rund 450 DM. Im
Endeffekt führt in diesem Beispiel die Mehrbelastung durch die
Selbstmedikationsausgaben zu einem Nettoeinspareffekt von etwa 340 DM pro Jahr
für den Versicherten.
Vor diesem Hintergrund leistet die Selbstmedikation einen wesentlichen Beitrag zur
finanziellen Entlastung der Versichertengemeinschaft und trägt so mittelfristig dazu
bei, die ungewollte Rationierung lebensnotwendiger Leistungen in Deutschland zu
vermeiden. Gesundheitspolitisch ist die Selbstmedikation bei geringfügigen und
vorübergehenden Gesundheitsstörungen ebenfalls unbedenklich und wird daher von
der Bundesregierung befürwortet (Bundestagsdrucksache 10/1987, Handbuch zur
Selbstmedikation). Damit zeichnen sich für die Selbstmedikation auch in Zukunft
erhebliche Wachstumschancen ab.
PZ-Artikel von Uwe May, Bonn



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