Pharmazie

Von einem "Krankheitsbild, das sich in einer Tabuzone befindet", sprach
Professor Dr. Rudolf W.C. Janzen von der Neurologischen Klinik des
Frankfurter Nordwest-Krankenhauses beim Fortbildungskongreß in Davos.
Die Rede ist von der Multiplen Sklerose, einer auf das zentrale
Nervensystem begrenzte entzündliche, demyelinisierende Erkrankung, die
meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr beginnt und Frauen zwei- bis
dreimal häufiger trifft als Männer. Mit Dauer der Erkrankung kommt es
allmählich zu fortschreitender Invalidität, etwa ein Drittel der Betroffenen
sitzt irgendwann im Rollstuhl.
Unterschieden werden schubförmig remittierende Verlaufsformen (meist im
Frühstadium), chronische progrediente und benigne Formen. Nach etwa 15 Jahren
kommt die aktive Krankheitsprogression in der Regel weitgehend zum Stillstand. Zu
den Initialsymptomen gehören unter anderem Müdigkeit, Schwindel,
Augenmotilitäts- und Feinmotorikstörungen, intellektuelle und Stimmungsstörungen
sowie Spastizität und Paresen. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Patienten
beträgt nach Ausbruch der Erkrankung noch mindestens 35 Jahre.
Als Auslöser kommen laut Janzen viele Faktoren zusammen. Einig sei man sich
inzwischen, daß es sich bei der MS um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der
es in Gegenwart von Myelin-Autoantikörpern und autoreaktiven T-Zellen zu
selektiven Myelinzerstörungen kommt. Zusätzlich zu einer genetischen Disposition
werden exogene Triggerfaktoren wie virale Infektionen vermutet. Eine bislang noch
nicht belegte Hypothese gehe von zwei parallel verlaufenden
Pathogenitätsmechanismen im ZNS aus, erklärte der Referent: der schubförmigen
Zerstörung der Myelinscheiden und der chronischen Zerstörung von Axonen im
Gehirn.
"Es gibt keinen einzelnen Untersuchungsbefund, der beweist, daß eine
MS-Erkrankung vorliegt", betonte Janzen. Für eine gesicherte Diagnose müssen in
der klinischen Untersuchung mindestens zwei Schübe festgestellt werden, es muß
außerdem eine Liquordiagnostik und eine Kernspintomographie durchgeführt
werden. Charakteristisch für den Liquorbefund bei einem MS-Patienten seien im
Bereich der Immunglobuline (IgG) oligoklonale Banden, die im Serum nicht
nachweisbar sind, erklärte der Neurologe. Im Kernspintomogramm lassen sich
veränderte Markscheiden (Herde) feststellen, die nach durchschnittlich sechs
Wochen von selbst wieder verschwinden. Zu Fehldiagnosen können unter anderem
bestimmte Autoimmunerkrankungen (zum Beispiel systemischer Lupus
erythematodes) oder Infektionen (zum Beispiel Aids, Syphilis) führen.
Ebenso wie die Diagnose muß auch die Behandlung der MS an mehreren Punkten
ansetzen. Janzen: "Eine monokausale Therapie ist nicht möglich." Ziel sei es, die
autoimmunuologische Aktivität im Zentralnervensystem zu beeinflussen und zu
modulieren. Zur Behandlung akuter Schübe werden hochdosiert Steroide wie
Methylprednisolon gegeben, zur Dämpfung der Schubhäufigkeit Immunmodulatoren
wie Beta-Interferon 1b, 1a oder Copolymer-1 (COP-1); zum gleichen Zweck sind
auch 7s-Immunglobuline in klinischer Prüfung. Um die Krankheitsprogression zu
verlangsamen, kommen unter anderem Substanzen wie Azathioprin oder
Methotrexat zum Einsatz. Als mögliche Kombinationstherapien nannte Janzen
COP-1 plus Azathioprin oder plus Beta-Interferon. Auch der sequentielle Einsatz
von COP-1 und Beta-Interferonen werde geprüft.
Kritisch bewertete der Referent Empfehlungen, wonach Beta-Interferon zur
Behandlung der schubförmigen MS nur bis zu einem Lebensalter von 50 Jahren und
bei erhaltener Gehfähigkeit eingesetzt werden sollte. Nach seiner Überzeugung
müssen hier in Einzelfällen auch abweichende Entscheidungen überlegt werden,
ebenso wie bei dem für Beta-Interferone derzeit vorgegebenen Mindestalter von 18
Jahren. Zu kritisieren ist nach seiner Überzeugung außerdem, daß die meisten
klinischen Studien auf wenige, bestimmte Verlaufsformen beschränkt sind (Beispiel:
Beta-Interferon bei schubförmiger MS). Man könne daraus keine Rückschlüsse auf
die anderen Formen ziehen, und die Frage, ob sich die Indikationsstellung an das
Studiendesign anpassen muß oder ob individuelle Abweichungen zulässig sind, sei
nach wie vor offen.
PZ-Artikel von Bettina-Neuse Schwarz, Davos


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