Therapie im Takt der inneren Uhr |
25.03.2013 15:04 Uhr |
Von Claudia Borchard-Tuch / Leben spielt sich rhythmisch im Verlauf der Zeit ab. Biorhythmen beeinflussen die Wirkung von Pharmaka auf verschiedene Weise. Einerseits kann sich die Reaktion des Körpers auf ein Arzneimittel zeitabhängig ändern, andererseits variieren auch Krankheitssymptome. Neue Erkenntnisse der Chronopharmakologie können dann die Therapie verbessern.
Bereits vor mehr als 200 Jahren bemerkten Naturwissenschaftler und Ärzte tages- und jahreszeitliche Veränderungen beim Menschen. Eine »innere Uhr« regelt alle Körperfunktionen. Doch sie ist empfindlich. Schon die Zeitumstellung um nur eine Stunde, beispielsweise von der Winter- auf die Sommerzeit, kann den inneren Rhythmus stören. Immerhin ein Viertel der Weltbevölkerung erlebt dies alljährlich.
Die »innere Uhr« ist empfindlich. Schon die Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit kann den Rhythmus stören.
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Die meisten Menschen gewöhnen sich im Herbst relativ schnell an die um eine Stunde zurückgestellte Uhrzeit. Nach circa einer Woche haben sich etwa die Schlafrhythmen an Wochenenden und Arbeitstagen einander angeglichen. Doch im Frühjahr richten die meisten Menschen ihre Schlafzeit auch vier Wochen nach der Zeitumstellung noch nach dem Sonnenzyklus – sie gehen also später zu Bett. An Werktagen müssen sie jedoch in der Regel eine Stunde früher aufstehen und bekommen somit weniger Schlaf.
Die Chronopharmakologie (griechisch: chronos, Zeit) befasst sich mit dieser inneren Uhr und den Konsequenzen für die Arzneimitteltherapie (1). So können Biorhythmen die Effekte von Pharmaka auf unterschiedlichen Ebenen modulieren. Wird der Verlauf der Blutspiegelkurve beeinflusst, handelt es sich um Chronopharmakokinetik. Ändert sich hingegen die Empfindlichkeit des Zielsystems, spricht man von Chronopharmakodynamik.
Hauptziel der Chronopharmakologie ist die Optimierung der Behandlung: höchstmögliche Steigerung der Medikamentenwirkung und Verringerung der Nebenwirkungen bis zum Minimum. Aus klinisch-chronopharmakologischen Studien weiß man beispielsweise, dass H2-Antihistaminika zur Behandlung eines Magengeschwürs auf den Nachttisch gehören. Ideal ist deren Einnahme am Abend. Die Magensäuresekretion folgt einem Tag-Nacht-Rhythmus mit einem Maximum um 22 Uhr und einem Minimum um 8 Uhr. Daher erreicht man die größtmögliche Säurehemmung bei abendlicher Einnahme (1).
Biologische Rhythmen
Biorhythmen finden sich auf der Ebene von Organen, Zellen, Zellstrukturen und Molekülen. Rückkopplungsschleifen bestimmter Gene (»Uhrengene«) und ihrer Produkte bilden das molekulare Uhrwerk. Zwar wurde bisher weder ein »Zeitsinn« noch ein Organ der »Zeitmessung« entdeckt, doch es gilt als gesichert, dass Licht endogen generierte Rhythmen mit der Umwelt synchronisiert (2).
Von praktischer Bedeutung für die Pharmakotherapie ist vor allem der zirkadiane (Tag-Nacht-)Rhythmus. Die innere Uhr des Menschen gibt im Allgemeinen einen etwas längeren Takt vor, als die Tage auf der Erde tatsächlich dauern. Mithilfe des Sonnenlichts muss sich die innere Uhr ständig neu auf den 24-Stunden-Tag einstellen.
Licht zur falschen Zeit kann den gesamten Organismus aus dem Takt werfen. Wer mit dem Flugzeug mehrere Zeitzonen durchquert, kennt das Phänomen als Jetlag. Schichtarbeit bringt die innere Uhr ähnlich durcheinander – mit dem Unterschied, dass der Schichtarbeiter nur eine virtuelle Reise durch die Zeitzonen unternimmt. Und im Gegensatz zum Fluggast, der sich verhältnismäßig schnell an die neuen Tageszeiten anpassen kann, ist dies bei wechselnden Schichtzeiten nicht möglich, da Sonnenauf- und -untergang nahezu unverändert bleiben.
Die Desynchronisation der inneren Uhr kann zu Schlaf- und Stoffwechselstörungen, Magengeschwüren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen und sogar das Krebsrisiko erhöhen.
Von »Eulen« und »Lerchen«
Jeder Mensch hat zudem seinen individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus, der zwischen zwei Extremen liegt: den nachtaktiven »Eulen« und den frühmorgens schon munteren »Lerchen«. Je nachdem, wie sich die individuellen Schlaf- und Wachphasen über den Tag verteilen, sprechen Forscher von verschiedenen Chronotypen. Menschen sind an innere Taktgeber gebunden; diese werden seit einigen Jahren intensiv erforscht.
Alle wach, einer schläft: Der Schlaf-Wach-Rhythmus variiert auch mit dem Lebensalter.
Foto: TK
Angesichts der neuen Erkenntnisse fordern manche Experten, den individuellen Chronotyp auch in Schule, Beruf und Alltag stärker zu berücksichtigen – etwa durch flexible Arbeitszeiten. Denn einerseits prägt eine stets gleiche morgendliche Aufstehzeit zwar den Tagesrhythmus der Menschen, andererseits können sie sich den gesellschaftlichen Normen nicht beliebig anpassen. Tatsächlich ist die Schlafdauer während der Woche weitgehend unabhängig vom Chronotyp. Anders sieht es an freien Tagen aus: Während sich die Schlafdauer der frühen Chronotypen am Wochenende kaum verändert, schlafen Eulen wesentlich länger, wenn der externe Taktgeber Wecker nicht klingelt.
Anscheinend sammeln späte Chronotypen werktags ein Schlafdefizit an, das sie am Wochenende abbauen. Sie berichten häufiger von Schlaflosigkeit oder werden häufiger von Albträumen heimgesucht als »Lerchen«. Zudem fühlen sie sich tagsüber oft müder. Diese Menschen gehen aber nicht einfach zu spät ins Bett – sie können nicht früher schlafen.
Der »soziale Jetlag«, der durch die Diskrepanz zwischen biologischer und sozialer Zeit entsteht, kann weitreichende Folgen haben. Besonders Kinder und Jugendliche bekommen häufig Probleme in Schule oder Ausbildung. Während die hellwachen »Lerchen« Lob für ihre aktive Unterrichtsbeteiligung erhalten, kämpfen die »Eulen« gegen ihre Müdigkeit an und müssen sich mangelnde Disziplin vorwerfen lassen. Kritik und schlechte Noten sind nicht nur ärgerlich, sondern belasten auch das Selbstwertgefühl.
Tatsächlich erkranken mehr Abend- als Morgentypen an Depression, Angst- oder Somatisierungsstörungen. Zudem entwickeln »Eulen« öfter paranoide Ideen und Suizidgedanken und greifen schneller zu Zigaretten oder Alkohol. Das könnte zumindest teilweise die Folge des sozialen Jetlags sein.
Der Schlaf-Wach-Rhythmus des Menschen ist nicht stabil, sondern verändert sich im Lauf des Lebens. Kinder sind meist schon frühmorgens hellwach. Ab der Pubertät verschiebt sich die Schlafmitte allmählich nach hinten: Aus Lerchen werden Eulen. Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung etwa um das 20. Lebensjahr. Im Erwachsenenalter kehrt sich der Trend langsam wieder um, bis man etwa ab dem 60. Lebensjahr wieder so früh wach wird wie als Kind. Noch ist unbekannt, warum sich der zirkadiane Rhythmus mit den Jahren verändert.
Licht als äußerer Taktgeber
Der zentrale Taktgeber des Gehirns befindet sich direkt über den sich kreuzenden Sehnerven, dem Chiasma opticum, und heißt daher »suprachiasmatischer Nucleus« (SCN). Die Zellen des SCN regulieren die Melatonin-Produktion der Zirbeldrüse, die wiederum das Schlafbedürfnis maßgeblich beeinflusst. Die Feuerrate des SCN verändert sich im 24-Stunden-Rhythmus, denn die Sonneneinstrahlung spielt hierfür eine wichtige Rolle.
Trifft Licht auf die Netzhaut, senden Fotorezeptoren Signale an die Nervenzellen des SCN. Diese werden aktiviert und senden Impulse aus, die in der Zirbeldrüse die Ausschüttung eines wichtigen Transmitters unterdrücken – des Schlafhormons Melatonin. Je weniger Licht auf das Auge fällt, desto mehr Melatonin schüttet die Zirbeldrüse aus. Die Sekretion des Hormons ist daher nachts vielfach höher als während des Tages. Ansteigende Melatonin-Spiegel machen müde, verringern die Körpertemperatur und dämpfen die Aktivität des Nervensystems (2).
Schritte in der Arzneistoffkinetik | Zeitabhängige physiologische Funktionen |
---|---|
Liberation | Zeitspezifizierte Freisetzung durch die Arzneiform programmierbar |
Absorption im Magen-Darm-Trakt | Durchblutung, Magen-pH, Säuresekretion, Motilität, Magenentleerung, Aktivität in Ruhe |
Distribution | Durchblutung des Darms, Blutverteilung, peripherer Widerstand, Proteinbindung, Aktivität in Ruhe |
Hepatischer Metabolismus | Durchblutung der Leber, First-Pass-Effekt, Enzymaktivität, Aktivität in Ruhe |
Renale Elimination | Durchblutung, renaler Plasmafluss (Menge des die Nieren pro Minute durchströmenden Blutes), glomeruläre Filtration, renale Exkretion, Urin-pH, Elektrolyte |
Auch die Cortisol-Sekretion unterliegt einem zirkadianen Rhythmus. Maximale Konzentrationen werden zwischen zwei und acht Uhr morgens gemessen, dann fällt die Konzentration langsam ab auf minimale Werte zwischen 16 und 24 Uhr. Dieser Rhythmus wird vom zentralen Nervensystem über die Sekretion des adrenocorticotropen Hormons gesteuert. Eine Aufhebung der Tagesrhythmik ist typisch für das Cushing-Syndrom (3).
Als »Tag-Tier« ist der Mensch entwicklungsgeschichtlich tagsüber auf Kampf oder Flucht eingestellt, nachts auf Ruhe und Erholung. Tagsüber sind Menschen daher normalerweise sympathikon aktiv. Der Sympathikus wirkt ergotrop, das heißt antreibend und leistungssteigernd. Er erhöht die Körpertemperatur, beschleunigt Herzschlag und Atmung, erweitert Herzkranzgefäße und Bronchiolen und verengt die Arteriolen, was den Blutdruck erhöht. Zugleich hemmt der Sympathikus die Darmbewegungen sowie die Blasen- und Darmentleerung.
Der Parasympathikus wirkt als Antagonist des Sympathikus verlangsamend und hemmend im Körper. Er wirkt jedoch beschleunigend und anregend auf die Darmtätigkeit (Peristaltik), und zwar überwiegend nachts, wenn Menschen in der Regel vagoton, das heißt auf »Schongang« eingestellt sind. Die nachts beschleunigte Darmperistaltik erfordert eine starke Durchblutung der Eingeweide. In diesem Sinn hat der Vagus auch eine trophotrope Wirkung.
Von ultradian bis zirkannual
Neben einem täglichen Rhythmus können sich physiologische Prozesse auch in kürzeren oder längeren Abständen wiederholen – beispielsweise ultradian (unter 20 Stunden), monatlich (zirkamensuell) oder jährlich (zirkannual). Herzschlag, Atmung oder pulsatile Freisetzung von Hormonen unterliegen ultradianen Rhythmen, während die Menstruation dem Monatsrhythmus folgt.
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Werden die Tage im Herbst kürzer und die Nächte länger, so verkürzen sich die Zeiträume, in denen die Nervenzellen des SCN feuern. Die innere biologische Uhr beginnt zu »klingeln«. So ändert sich je nach Jahreszeit das Profil der Melatonin-Synthese. Dies beeinflusst bei Tieren zahlreiche Funktionen ihres Körpers. Sie haben ein vermehrtes Bedürfnis zu schlafen, sind weniger aktiv und schränken ihre Sozialkontakte ein.
Winterruhe und Winterschlaf scheinen für viele Tiere sinnvoll zu sein. Bei Menschen hingegen besteht die Gefahr, dass Lichtmangel eine Winterdepression (seasonal affective disorder, SAD) auslöst (2).
Chronopharmakokinetik
Die Resorption eines Arzneistoffs verläuft zeitabhängig (Tabelle). Da sehr viele Arzneistoffe überwiegend im Dünndarm aufgenommen werden, spielen die Schnelligkeit der Magenentleerung und die Durchblutung des Gastrointestinaltrakts eine wichtige Rolle. Der Magen wird morgens schneller entleert als abends. Die Durchblutung des Magen-Darm-Trakts ist vor allem nachts und am frühen Morgen am höchsten; sie sinkt in den Mittagsstunden (4). Daher werden zahlreiche Arzneistoffe – insbesondere die lipohilen in nichtretardierter Form – nach morgendlicher oraler Einnahme schneller und in größerem Ausmaß resorbiert.
Höhere Spitzenkonzentrationen können jedoch das Risiko für Nebenwirkungen erhöhen. Dies gilt für Antiasthmatika wie Theophyllin und Terbutalin, für kardiovaskulär wirksame Pharmaka wie Propranolol, Nifedipin, Verapamil, Isosorbid-5-Mononitrat und Digoxin ebenso wie für nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), Omeprazol und Lansoprazol, Diazepam sowie Amitriptylin (4).
Beim Menschen gibt es zudem Hinweise auf einen 24-Stunden-Rhythmus in der Metabolisierung. So scheinen die Aktivitäten verschiedener Leberenzyme zirkadian zu variieren. Beispielsweise wurde eine Rhythmik der Cytochrom-P450-3A4-Aktivität in der Leber gezeigt (5).
Auch die Ausscheidung von Arzneistoffen über die Niere ist zeitabhängig. Dabei spielen zirkadiane Rhythmen der glomerulären Filtrationsrate (GFR) sowie tageszeitliche Veränderungen im pH-Wert des Urins eine Rolle (1). Die Urinproduktion hat mittags ihren Höhepunkt und in der Nacht ein Minimum. Folglich ist die Ausscheidung vieler Arzneistoffe über die Nieren nachts am geringsten.
Zugleich variiert der pH-Wert des Urins zirkadian. Da die Säurekonzentration in der Nacht am höchsten ist, werden basische Arzneistoffe wie Amphetamin nachts vermehrt ausgeschieden. Sie liegen ionisiert vor und werden kaum rückresorbiert. Umgekehrt ist die Ausscheidung saurer Arzneistoffe wie Sulfonamide oder Salicylate nachts minimal.
Seelische Erkrankungen
Nicht nur Organe, sondern auch viele pathologische Vorgänge unterliegen ausgeprägten tagesrhythmischen Variationen. Dies gilt beispielsweise für zentralnervöse und psychische Funktionen. Bei depressiven Patienten scheint der Schlaf-Wach-Zyklus phasenverschoben zu sein. Bis zu 80 Prozent aller depressiven Patienten leiden an Schlafstörungen; mehr als ein Drittel der Patienten klagt über Müdigkeit und Fatigue tagsüber. Partieller Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte kann die Beschwerden kurzfristig bessern (6).
Mehrere Studien wiesen nach, dass Lithium, Monoaminooxidasehemmer und trizyklische Antidepressiva Veränderungen im zirkadianen Rhythmus erzeugen. Bei Ratten bewirkt Lithium, dass die Tiere länger aktiv sind und herumlaufen (7). Es ist eine interessante Hypothese, ob der therapeutische Effekt von Lithium bei depressiven Patienten auf einer Verlängerung der zirkadianen Periode beruht.
Variabler Wert: Morgens ist der Blutdruck meist höher als abends. Und die Aufregung beim Arzt kann das Messergebnis weiter steigern.
Foto: KKH
Auch für Benzodiazepine liegen chronopharmakologische Befunde bei Mensch und Tier vor. Beim Menschen waren nach Einnahme von 5 mg Diazepam um 9.30 Uhr signifikant höhere Plasmakonzentrationen zu beobachten als bei Einnahme der gleichen Dosis um 21.30 Uhr. Der sedierende Effekt war am Morgen dementsprechend ausgeprägter als am Abend. Bei den nachtaktiven Mäusen wurden zirkadiane Rhythmen in der Toxizität von Chlordiazepoxid und Diazepam nachgewiesen, mit niedrigeren LD50-Werten zu Beginn der Ruheperiode, da die Plasmakonzentrationen bei den Tieren morgens niedriger waren (1).
Unter einer Langzeittherapie von mehr als einem Jahr zeigte sich, dass die »klassischen« Neuroleptika wie Flupentixol oder Haloperidol geringe bis ausgeprägte Störungen des Schlafrhythmus auslösen, während das atypische Neuroleptikum Clozapin zu einem geordneten Schlaf-Wach-Rhythmus führt (8). Bei Ratten beeinflusste Haloperidol die Expression des Uhrengens Per1 im SCN (9). Dies bestätigt die Ergebnisse beim Menschen. Es wurde zudem nachgewiesen, dass Neuroleptika über eine Hemmung von α1-Rezeptoren die Melatonin-Ausschüttung senken.
Blutdruck im 24-Stunden-Takt
Nahezu alle Funktionen des Herz-Kreislauf-Systems wie Blutdruck, Herzfrequenz, Schlagvolumen, Durchblutung und peripherer Widerstand folgen einem zirkadianen Rhythmus. Dies hat zur Folge, dass auch die Symptomatik von kardiovaskulären Erkrankungen im Tagesrhythmus schwankt. Die zirkadiane zentrale Regulation der Blutdruckdynamik beim Menschen ist jedoch kaum untersucht. Sicher ist auch hier der SCN von Bedeutung (1).
Mithilfe des ambulanten Blutdruck-Monitorings, kurz ABDM, kann das 24-Stunden-Blutdruckprofil erfasst werden. Das ABDM-Messgerät bestimmt automatisch in regelmäßigen Abständen den Blutdruck. Während die Messung tagsüber alle 20 Minuten erfolgt, geschieht dies nachts stündlich. Bei Gesunden und bei Patienten mit primärer Hypertonie kommt es zwischen 9 und 10 Uhr morgens zu einem Gipfel. Mittags fällt der Blutdruck ab, und vom Nachmittag bis zum Abend steigt er wieder an (10). Auch bei ruhenden Personen unterliegt der Blutdruck diesen Schwankungen.
Bei einem zahnärztlichen Eingriff kann man auf ein Lokalanästhetikum oft nicht verzichten. Verschiedene Studien zeigen, dass die Wirkung von Lokalanästhetika von der Tageszeit der Injektion abhängt. Während die lokalanästhetische Wirkung von Lidocain zwölf Minuten anhält, wenn es am frühen Morgen verabreicht wird, wirkt die gleiche Dosis am frühen Nachmittag dreimal länger. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich auch bei intradermaler Injektion. Gleiche Befunde wurden nach Injektion des Lokalanästhetikums Articain in Kombination mit dem Vasokonstriktor Adrenalin in einer zahnärztlichen Praxis erhoben (1).
In der Nacht fällt der Blutdruck bei gesunden Personen um bis zu 15 Prozent ab (»Dipper«). Fehlt dieser nächtliche Blutdruckabfall, handelt es sich um einen Non-Dipper. Non-Dipper- Patienten leiden meist unter einer sekundären Hypertonie, beispielsweise als Folge einer Nierenerkrankung.
Die Behandlung sollte sich an den entsprechenden Rhythmen orientieren, um eine optimale Wirkung zu erzielen (4). Als Beispiel: ACE-Hemmer verstärken bei abendlicher Einnahme die nächtliche Blutdrucksenkung, was bei Dippern ein Risiko für einen Apoplex bergen könnte. Bei Non-Dippern hingegen kann die abendliche Einnahme von ACE-Hemmern den nächtlichen Bluthochdruck normalisieren (4).
AT1-Antagonisten hingegen erhalten unabhängig von der Einnahmezeit das normale 24-Stunden-Profil des Blutdrucks. Calciumkanalblocker vom Dihydropyridin-Typ wie Isradipin oder Amlodipin können den gestörten Blutdruckrhythmus bei Non-Dippern normalisieren. Werden diese Substanzen am Abend gegeben, können sie das 24-Stunden-Blutdruckprofil normalisieren. Ähnlich scheinen sich Diuretika auszuwirken. Betablocker senken vor allem den Tagesbluthochdruck, da sie den am Tag erhöhten Sympathikotonus beeinflussen. Nachts lässt sich jedoch bei Non-Dippern kaum eine Blutdrucksenkung erreichen (1).
Koronare Herzkrankheit
Während koronarspastische, sogenannte Prinzmetal-Angina-Pectoris-Anfälle in der Nacht häufiger auftreten als am Tag, sind belastungsabhängige Angina-Pectoris-Anfälle tagsüber häufiger als nachts. In mehreren Studien wurde eine erhöhte Inzidenz von Herzinfarkten und plötzlichen, kardial bedingten Todesfällen in den frühen Morgenstunden nachgewiesen. Die morgendliche Häufung kardialer Ereignisse ist vor allem auf die Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz sowie den dadurch gesteigerten myokardialen Sauerstoffverbrauch zurückzuführen (1).
Herzinfarkte und ischämische Schlaganfälle passieren häufiger am frühen Morgen.
Foto: KKH
Auch ischämische Schlaganfälle ereignen sich infolge einer stärkeren Durchblutung vermehrt am Morgen. Hirninfarkte ohne Embolien haben hingegen ein Maximum in den Nachtstunden um drei Uhr.
In der Therapie der Angina Pectoris war Propranolol am effektivsten, wenn es als morgendliche Einmaldosis gegen 8 Uhr gegeben wird. Bei der Prinzmetal-Angina war es ebenfalls günstig, Diltiazem am Morgen zu verabreichen.
Asthma bronchiale: häufiger nachts
Asthmaanfälle treten häufig in der Nacht auf. Verschiedene Faktoren tragen hierzu bei. Nachts ist die Sympathikusaktivität gering, während die Aktivität des Parasympathikus hoch ist. Auch die Empfindlichkeit der Lungen auf bronchokonstriktorische Substanzen wie Histamin, Acetylcholin und Allergene wie Hausstaub ist nachts erhöht (4).
Asthma-Medikamente haben daher meist mehr Nutzen, wenn sie abends angewendet werden (Grafik). Bei Theophyllin-Präparaten mit retardierter Freisetzung (slow release formulation) wird empfohlen, zwei Drittel der Dosis am Abend und ein Drittel morgens zu geben.
Auch für β-Sympathomimetika liegen Ergebnisse aus pharmakokinetischen Studien vor. Mit einer ungleichen oralen Dosierung von Terbutalin (abends höher als morgens) gelang es besser, nächtlich ausgeprägte Dyspnoen zu verhindern. Die inhalative Applikation von lang wirksamen β2-Sympathomimetika wie Formoterol oder Salmeterol wird heute vor allem bei Patienten mit nächtlichem Asthma empfohlen (4). Ebenso sollten Anticholinergika bei nächtlicher Atemwegsobstruktion in ungleicher Dosierung, das heißt mit einer abendlich höheren Dosis, gegeben werden. Damit können sie den Patienten in der Phase besonderer Gefährdung besser schützen (4).
Die Chronotherapie mit Glucocorticoiden ist vor allem für ihre orale Anwendung wichtig. Der Patient nimmt zum Beispiel eine größere Dosis frühmorgens und eine kleinere Dosis abends oder nur eine morgendliche Dosis oder eine morgendliche Dosis nur jeden zweiten Tag ein. Die Gabe am frühen Morgen kann unerwünschte Wirkungen vermindern (Grafik).
Heutzutage inhalieren die Patienten Glucocorticoide meistens. Jedoch muss bei einigen Inhalativa – wie nach oraler Gabe – mit einer Unterdrückung der endogenen Cortisolproduktion gerechnet werden (4).
Zytostatika nach Uhrzeit
Die therapeutische Anwendung von Zytostatika ist oft durch deren hohe Toxizität begrenzt. In tierexperimentellen Untersuchungen konnte eine Chronotherapie mit Zytostatika wie Cyclophosphamid oder Cytosinarabinosid nicht nur deren Toxizität vermindern, sondern auch die Heilungsquote bei Tumoren verbessern (4). Dabei wurden die Arzneistoffe nur zu bestimmten Tageszeiten oder eine unterschiedliche Dosierung zu verschiedenen Tageszeiten gegeben.
Das unterschiedliche Ansprechen der Tumorzellen ist eine Folge der möglichen höheren Dosierung aufgrund besserer Verträglichkeit.
Viele Medikamente wirken zu bestimmten Tageszeiten am besten oder längsten oder lösen weniger Nebenwirkungen aus; modifiziert nach TK
Die Infusion von Adriamycin brachte beispielsweise günstigere Ergebnisse und wurde besser toleriert, wenn die maximale Infusionsrate in den frühen Morgenstunden (6 Uhr) lag. Umgekehrt verhält es sich bei Cisplatin. Hier sollte die maximale Infusionsrate am besten um 18 Uhr geplant werden. Dies vermindert die nephrotoxische Wirkung im Vergleich zur morgendlichen Gabe um 25 Prozent.
Zurzeit laufen zahlreiche multizentrische europäische Studien unter Leitung der EORTC (European Organisation for Research and Treatment of Cancer), die eine Chronotherapie mit Zytostatika bei verschiedenen Tumorerkrankungen mit einer konventionellen Therapie vergleichen (11).
Fazit
Zahlreiche Studien belegen, dass die Zeit eine wichtige Rolle in der Pharmakotherapie spielt. So verlaufen Resorption, Metabolisierung und Ausscheidung eines Medikaments zeitabhängig. Auch die Empfindlichkeit der Zielorgane unterliegt einem meist zirkadianen Rhythmus. Andererseits zeigen zahlreiche Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Hypertonie oder koronare Herzkrankheit ausgeprägte tagesrhythmische Schwankungen. An diesen Rhythmen kann sich auch die Arzneitherapie orientieren, um bestmögliche Effekte bei guter Verträglichkeit zu erzielen. /
Claudia Borchard-Tuch studierte Medizin an der Universität Düsseldorf, erhielt 1982 die Approbation und schloss ein Jahr später ihre Promotion ab. Nach einer Tätigkeit als Assistenzärztin studierte sie Informatik an der Fernuniversität Hagen und schloss mit dem Diplom ab. Seit 1983 ist Borchard-Tuch freiberuflich als Autorin und Wissenschaftsjournalistin für medizinische Fachzeitschriften tätig.
Dr. med. Claudia Borchard-Tuch Forsthofweg 9, 6441 Zusmarshausen E-Mail: claudia.borchardtuch(at)gmail.com