| Theo Dingermann |
| 29.12.2025 12:00 Uhr |
Im Sinne einer rationalen Phytotherapie ist auch bei Cannabis die Anwendung von standardisierten Extrakten dem Verdampfen der Ganzdroge vorzuziehen. / © Getty Images/24K-Production
Forschende um Dr. Michael Hsu von der David Geffen School of Medicine in Los Angeles haben den aktuellen Evidenzstand zur therapeutischen Anwendung von Cannabis und Cannabinoiden bei Erwachsenen systematisch zusammengefasst und evaluiert. Ausgangspunkt ihrer im »JAMA Network« erschienen Übersichtsarbeit ist die hohe Prävalenz der medizinischen Nutzung vor allem in den USA und Kanada.
Dort berichten rund 27 Prozent der Erwachsenen, schon einmal Cannabis zu medizinischen Zwecken angewendet zu haben, häufig bei Schmerzen, Angststörungen oder Schlafproblemen. Parallel dazu zeigt sich laut der Analyse ein erhebliches Wissensdefizit aufseiten der Ärzteschaft, was die sichere und evidenzbasierte Beratung erschwert.
Pharmakologisch unterscheiden die Forschenden klar zwischen Cannabis als Pflanzenprodukt mit komplexer Zusammensetzung und isolierten beziehungsweise synthetischen Cannabinoiden. Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) wirkt primär als partieller Agonist am CB1-Rezeptor und ist für die psychoaktiven Effekte verantwortlich, während Cannabidiol (CBD) keine akute Intoxikation verursacht und über indirekte Modulation des Endocannabinoidsystems sowie serotonerger und TRPV1-Signalwege wirkt. Diese Differenzierung ist klinisch relevant, da sich Wirksamkeits- und Risikoprofile deutlich unterscheiden.
Nach wie vor sind evidenzbasierte Indikationen eng begrenzt. In Deutschland stehen als zugelassene Fertigarzneimittel das Mundspray Sativex® mit THC/CBD (Nabiximols) für mittelschwere bis schwere Verkrampfung aufgrund von Multipler Sklerose, Canemes® mit Nabilon (vollsynthetisches THC) für erwachsene Patienten bei Übelkeit und Erbrechen während der Chemotherapie sowie das CBD-haltige Epidyolex® für Kinder mit bestimmten Epilepsieformen zur Verfügung. Dronabinol (halbsynthetisches THC), das unter anderem gegen Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien sowie gegen Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei Patienten mit HIV/AIDS verordnet wird, kann auch bei allen anderen Anwendungsgebieten im Rahmen des Cannabis-Gesetzes verordnet werden.
Allerdings zeigen Metaanalysen randomisierter Studien für all diese Indikationen maximal kleine bis moderate Effektstärken, wie Hsu und Kollegen schreiben. So ergibt sich für Übelkeit und Erbrechen ein kleiner, statistisch signifikanter Nutzen gegenüber Placebo, dessen klinische Relevanz vor dem Hintergrund moderner antiemetischer Standardtherapien deutlich begrenzt ist. Für HIV-assoziierte Gewichtsabnahme findet sich ein moderater Effekt auf die Gewichtszunahme, allerdings bei sehr niedriger Evidenzqualität. Am robustesten ist die Datenlage für CBD bei pädiatrischen Epilepsiesyndromen, wo eine signifikante Reduktion der Anfallshäufigkeit belegt ist.
Für zahlreiche weitere Indikationen, in denen Cannabis häufig propagiert wird, kommen die Forschenden zu einer negativen oder zumindest nicht ausreichenden Evidenzbewertung. Dazu zählen akute Schmerzen, Schlafstörungen, Demenz, psychiatrische Erkrankungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD), Depressionen und Angststörungen sowie die Mehrzahl chronischer Schmerzzustände. Bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen wird Cannabis von mehreren Fachgesellschaften nicht als Erstlinientherapie empfohlen; allenfalls Nabiximols kann bei refraktären neuropathischen Schmerzen in Einzelfällen erwogen werden. Auch für tumorassoziierte Schmerzen zeige sich kein klinisch relevanter Nutzen, wie die Forschenden betonen.
Ein zentraler Schwerpunkt des Artikels liegt auf den Risiken. Hochpotente Cannabis-Produkte, wie sie in vielen Abgabestellen erhältlich sind, sind mit einem deutlich erhöhten Risiko für psychotische Symptome, Angststörungen und die Entwicklung einer Cannabis-Gebrauchsstörung assoziiert; etwa 29 Prozent der medizinischen Nutzer erfüllen entsprechende DSM-5-Kriterien. Hinzu kommen kardiovaskuläre Risiken: Beobachtungsstudien zeigen eine erhöhte Inzidenz von Myokardinfarkten, Schlaganfällen und koronarer Herzkrankheit, insbesondere bei täglichem inhalativem Konsum. Pulmonale Schäden, neurokognitive Beeinträchtigungen, Abhängigkeitssyndrome sowie spezifische Entitäten wie das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom werden ausführlich dargestellt. Besonders problematisch ist zudem die unzureichende Qualitätskontrolle vieler nicht pharmazeutischer Produkte, einschließlich Fehlkennzeichnung, hoher THC-Gehalte und Kontaminationen mit Pestiziden oder Schwermetallen.
Vor diesem Hintergrund formulieren die Autoren klare klinische Handlungsempfehlungen. Danach sollten vor jeder Erwägung einer Cannabis-Therapie Kontraindikationen wie Schwangerschaft, Psychosen und relevante Herz-Kreislauf-Erkrankungen, potenzielle Arzneimittelinteraktionen und das individuelle Suchtrisiko systematisch geprüft werden. Falls Cannabis oder Cannabinoide eingesetzt werden, ist die Verordnung angemessener Dosen essenziell: Verwendet werden sollten möglichst niedrige THC-Dosen, nicht inhalative Applikationsformen sollten bevorzugt werden, die Kombination mit Alkohol oder anderen ZNS-dämpfenden Substanzen sollte vermieden werden und es sollte konsequent über Fahrtüchtigkeit und Arbeitssicherheit aufgeklärt werden.