Extra-Herausforderung in Krisenzeiten |
Sven Siebenand |
23.06.2025 18:00 Uhr |
Eine Bewohnerin der Oblast Charkiw im Osten der Ukraine steht nach einer Notfallevakuierung mit ihren Habseligkeiten auf der Straße. Im Krieg und bei anderen Krisen kann es notwendig werden, schnell das Haus zu verlassen – Menschen mit Diabetes sollten darauf vorbereitet sein. / © Imago Images/Zuma Press Wire
Mehr als 500 Millionen Menschen weltweit leiden an Diabetes. Herausforderungen bringt die Krankheit bei den meisten regelmäßig mit sich – mal kleine, mal größere. So kann etwa ein Lieferengpass bei einem bestimmten Präparat oder die Einstellung der Produktion eines Insulins eine Neueinstellung des Diabetes erfordern. Das ist lästig, aber in der Regel nicht lebensbedrohlich.
Um potenzielle künftige Versorgungskrisen abzumildern und die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu schützen, hat die EU-Kommission im März 2025 mit dem »Critical Medicines Act« eine Verordnung zur Verbesserung der Verfügbarkeit kritischer Arzneimittel in der EU vorgeschlagen. Auf der Liste kritischer Arzneimittel befinden sich berechtigterweise auch verschiedene Insuline.
Ohne Insulin kann es zum Beispiel für Menschen mit Typ-1-Diabetes innerhalb kurzer Zeit zu lebensgefährlichen Komplikationen wie einer Ketoazidose kommen. In Krisensituationen kann ein Diabetes daher eine besonders gefährliche Zusatzbedingung darstellen. Unterbrechungen der Lieferkette, etwa durch einen Zusammenbruch der Infrastruktur, können die Versorgung mit Insulin, anderen Antidiabetika oder Hilfsmitteln gefährden. Auch das Thema Kühlkette kann relevant werden, wenn Insulin, zum Beispiel auf der Flucht oder wegen eines Stromausfalls, über einen längeren Zeitraum nicht kühl gelagert werden kann.
Ferner kann es zum Problem für Betroffene und Behandelnde werden, wenn wichtige medizinische Unterlagen wie Medikationspläne fehlen. Zudem ist zu beachten, dass sich die Ernährungssituation in Krisensituationen komplett verändern kann. Verstärkte Bewegung oder Bewegungsmangel, Stress, Angst und zu wenig Schlaf wirken sich auf den Blutzucker aus.
Planen lassen sich Krisensituationen oft nicht. Betroffene können aber versuchen, sich zumindest etwas darauf vorzubereiten, indem sie ein individuelles Notfallset zusammenstellen. Darin sollte Platz sein für einen ausreichenden Vorrat an Insulin und gegebenenfalls anderen Antidiabetika, aber auch Spritzen, Kanülen, Teststreifen/Sensoren, Lanzetten, Traubenzucker und Glucagon. Auch an Kühlmöglichkeiten für Insulin und gegebenenfalls andere Medikamente sollte man denken, etwa spezielle Kühltaschen oder eine Thermoskanne. Ebenfalls sinnvoll sind Kopien von Rezepten, ein Diabetesausweis (am besten in mehreren Sprachen) und die digitale Sicherung von Informationen in einer Cloud oder auf einem Speichermedium. Die American Association of Clinical Endokrinology macht auf ihrer Website einen Vorschlag für eine Notfallausrüstung und zeigt in einem Youtube-Video, worauf man achten sollte.
Betroffene können auch in der diabetologischen Praxis nachfragen, wie sie in einer potenziellen Notsituation ihren Diabetes mit reduzierten Ressourcen managen können. Hilfsorganisationen wie Action Medeor oder das Rote Kreuz bieten teilweise direkte Hilfe an. Notfallkontakte abzuspeichern, ist daher keine schlechte Idee.
Am Beispiel der Ukraine wird deutlich, was der Ausbruch eines Krieges für Menschen mit Diabetes bedeutet – zusätzlich zu allem Leid. Gegenüber der PZ schildern zwei Apothekerinnen aus der Ukraine, wie es Menschen mit Diabetes in ihrem Land zu Beginn des Krieges ging und heute geht. Beide Kolleginnen sind für Partnerorganisationen von Action Medeor tätig, Mariia Zavaliei für Intersos und Yuliia Haitovska für Your City International Charity Fund.
Der Ausbruch des Krieges habe eine Massenflucht und Chaos ausgelöst, wodurch viele Menschen mit Diabetes in eine äußerst prekäre Lage gerieten, berichten Zavaliei und Haitovska. Besonders schlimm sei es für Menschen mit Typ-1-Diabetes gewesen, die vollständig auf Insulin angewiesen sind, so Zavaliei. Medizinische Notfallteams berichteten über Fälle von akuten Stoffwechselkrisen, von denen einige tödlich endeten.
Die Apothekerin Mariia Zavaliei ist in der Ukraine für die Hilfsorganisation Intersos im Einsatz. / © Intersos
Apotheken spielten in der Ukraine eine besonders wichtige Rolle: »In Krisenzeiten sind Apotheken mehr als nur Ausgabestellen – sie sind Lebensadern. Mit gezielter Unterstützung und proaktivem Engagement können Apotheken in der Ukraine die Diabetesversorgung erheblich verbessern, insbesondere für vertriebene oder unterversorgte Bevölkerungsgruppen«, sagt Zavaliei. Die Koordination zwischen Apotheken sowie Arztpraxen und Krankenhäusern sei zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Diabetesversorgung in der Ukraine geworden.
Die Apothekerin betont aber auch, dass Hilfsorganisationen für Menschen mit Diabetes nicht nur hilfreich, sondern unerlässlich sind. »In einer Zeit, in der das Gesundheitssystem weitgehend zusammengebrochen ist, bieten diese Gruppen wichtige Ressourcen, Informationen und emotionale Unterstützung, die den Unterschied zwischen Stabilität und Krise ausmachen können.«
Hilfsorganisationen koordinierten nach Kriegsausbruch schnellstmöglich Lieferungen von Arznei- und Hilfsmitteln über Nachbarländer und versuchten, Menschen mit Typ-1-Diabetes gezielt zu finden und zu versorgen – oft über Social Media. Zavaliei: »Soziale Medien sind in der Ukraine für die Koordinierung der Gesundheitsversorgung, die Verteilung von Medikamenten und das Überleben von Menschen mit Diabetes unerlässlich geworden. Die Stärkung der digitalen Reichweite und die Sicherstellung des Zugangs zu diesen Plattformen, selbst in Zonen mit geringer Netzanbindung, sollte für alle an der gesundheitlichen Notfallhilfe beteiligten Akteure weiterhin Priorität haben.«
Auf Plattformen wie Telegram und WhatsApp gebe es zahlreiche Selbsthilfegruppen, die Patienten mit freiwilligen Helfern und Gesundheitsdienstleistern zusammenbringen und in Echtzeit über die Verfügbarkeit von Hilfe informieren. Diese Netzwerke helfen laut Zavaliei den Menschen auch dabei, sich in den komplexen Verfahren für den Zugang zu medizinischer Versorgung zurechtzufinden.
Angesichts des anhaltenden Krieges und des Systembruchs sei auch der Zugang zu Schulungen zum Selbstmanagement bei Diabetes von entscheidender Bedeutung. Dies gelte insbesondere für Menschen, die mit reduzierten medizinischen Ressourcen zurechtkommen müssen. Auch hierbei können sich Apotheken einbringen, indem sie eine Diabetesberatung anbieten und Aufklärungsmaterial verteilen. »Angesichts der lückenhaften Verfügbarkeit von Internet- und sogar Fernsehsignalen in vielen Gebieten sind persönliche Bemühungen manchmal die einzige Quelle für zuverlässige Informationen«, sagt Zavaliei.
Wenige Wochen nach Beginn des Krieges erschien im Fachjournal »The Lancet« ein Artikel mit der Überschrift »Krieg in der Ukraine und Hindernisse für die Diabetesversorgung« (DOI: 10.1016/S0140-6736(22)00480-9). Die Autoren gehen darin auf die humanitäre Hilfe aus dem Ausland ein, aber auch auf die Ungewissheit, wie lange die Konfrontation andauern wird. Sie betonen, dass die Aushandlung grüner Korridore von entscheidender Bedeutung für die Lieferung von Medikamenten und humanitärer Hilfe in gefährdete Gebiete ist. Darüber hinaus könnte die Bereitstellung von Telemedizin durch Endokrinologen und Fachleute für psychische Gesundheit eine Teillösung für die Versorgungsschwierigkeiten darstellen.
Abschließend fordern die Autoren, dass solide Strategien entwickelt werden, damit in ähnlichen Situationen künftig ein klarer und wirksamer Aktionsplan zur Unterstützung von Menschen mit Diabetes zur Verfügung steht. Ähnlich drückt es auch Zavaliei aus: »Die Anfangsphase des Krieges machte deutlich, wie gefährdet Menschen mit chronischen Erkrankungen während eines Konflikts sind, und unterstrich die Notwendigkeit einer besseren Vorbereitung und Koordinierung in künftigen Notfällen.«