Pharmazeutische Zeitung online
Nachhaltigkeit

EU-Verhandlungen zu Arzneimittelrückständen starten

Arzneimittel sind inzwischen verbreitet in der Umwelt und immer wieder auch im Trinkwasser nachweisbar. Daten zu Risiken gibt es - nur sind sie oft nicht zugänglich, wie Experten bemängeln. Auf EU-Ebene starten nun Verhandlungen.
dpa
Melanie Höhn
28.03.2023  16:30 Uhr

Kontinuierlich gelangen Tonnen von Humanarzneimittelwirkstoffen und deren Abbauprodukte mit dem Abwasser in die Umwelt und können dort Schaden anrichten, wie das Umweltbundesamt informiert. Je nach Arzneimittel-Präparat werden bis zu 90 Prozent des enthaltenen Wirkstoffes unverändert wieder ausgeschieden. Kläranlagen fangen nur einen Teil der Substanzen ab – in Gewässern seien Arzneimittel daher ebenso nachzuweisen wie - in deutlich geringeren Mengen - im Trinkwasser.

Mit den Auswirkungen von Arzneimitteln auf die Ökosysteme beschäftigt sich die interdisziplinäre Forschungsgruppe PharmCycle der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Im Rahmen des PharmCycle-Projekts hat die Juristin und Umweltwissenschaftlerin Kim Teppe an der HAW Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg zum Umweltrecht promoviert. Die PZ berichtete bereits. Teppes These: Das Arzneimittelrecht wird den Anforderungen des Umweltrechts nicht gerecht. Denn: Es sei nicht hinreichend bekannt, wie die Rückstände von 771 nachgewiesenen Arzneimittelstoffen in der Umwelt wirken. Zwar müssen die Hersteller Studien zu Umweltverhalten und -toxizität durchführen, publik werden die Ergebnisse jedoch kaum.

Daten werden nicht vorgelegt

»Umweltbehörden und Öffentlichkeit kommen an die Daten oft nicht heran«, erklärt Teppe. Effektiver Gewässerschutz sei in der Folge erheblich erschwert. Anders als etwa bei Industriechemikalien müssten Arzneimittel-Hersteller bisher nur bei den Zulassungsbehörden Daten einreichen und könnten sich zudem auf umfangreiche Ausnahmen berufen, so dass in der Praxis oft gar keine Daten vorgelegt werden.

Inzwischen dreht sich der Wind. Auf EU-Ebene laufen Verhandlungen für neue Regelungen. Die EU-Kommission hat angekündigt, in den kommenden Tagen oder Wochen einen ersten Entwurf für das neue Humanarzneimittelrecht vorzulegen. »Darin sind dann hoffentlich Umweltbelange wie das Schließen von Datenlücken und die Datentransparenz wenigstens ansatzweise schon adressiert«, hofft Teppe, die seit einigen Monaten für das Umweltbundesamt (UBA) arbeitet. Für ihre juristische Doktorarbeit an der HAW und der Universität Hamburg zur Problematik war sie 2022 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet worden.

Diclofenac im Abwasser

Die Substanz Diclofenac - in Deutschland unter anderem Bestandteil von Salben, die gegen Schmerzen wirken sollen - ist ein Beispiel dafür, dass Arzneistoffe ebenso überraschende wie furchtbare Folgen für Natur und Umwelt haben können: Als indische Landwirte in den 1990er-Jahren begannen, ihre Rinder mit Diclofenac zu behandeln, begann ein Massensterben der Geier. Bestände schrumpften um 90 Prozent und mehr, einige Arten starben fast aus. Das Mittel verursacht bei den Greifvögeln, die es beim Verzehr von Kadavern aufnehmen, schon in kleinsten Mengen ein qualvolles, tödliches Nierenversagen.

Allein in Deutschland werden pro Jahr etwa 80 Tonnen des Wirkstoffes verbraucht. »Maximal sechs Prozent kommen am gewünschten Zielort im Körper an«, sagt Gerd Maack von der Fachgruppe zur Umweltbewertung von Arzneimitteln des UBA. »Die Haut ist eine effektive Barriere, das ist ja auch ihre Aufgabe.« Als Salbe aufgetragen gehe der Großteil des enthaltenen Wirkstoffs beim Händewaschen, Duschen oder dem Waschen der getragenen Kleidung ins Abwasser. In den Kläranlagen werde nur ein Teil eliminiert.

Umweltbewusstsein verstärken

Die Wasserrahmenrichtlinie der EU sieht inzwischen eine weitere Reinigungsstufe vor, auch in Deutschland werden immer mehr vierte Klärstufen eingebaut. Sie halten Spurenstoffe etwa durch sogenannte Ozonierung oder Aktivkohlefiltration zurück. »Viele Wirkstoffe wie Röntgenkontrastmittel rauschen aber auch da einfach so durch«, sagt Maack vom Umweltbundesamt. Diskutiert werden deshalb verschiedene weitere Maßnahmen, etwa eine Umweltverträglichkeits-Ampel als Zusatzinfo für Fachpersonal. »Wirkstoffe wie Diclofenac sollten nicht mehr rezeptfrei abgegeben werden«, nennt Maack eine weitere Möglichkeit.

Medizinisch notwendig seien die Diclofenac-Salben - mit Ausnahme gegen Arthritis - oft nicht, ist Maack überzeugt. »Die Menschen müssten sich viel stärker bewusst machen, was sie mit der Verwendung in die Umwelt bringen.« Experten betonen schon seit Jahren, dass sich die Mentalität in Gesundheitsfragen in Deutschland grundlegend ändern müsse: Mehr Bereitschaft zu eigenem Handeln wie etwa zu einer besseren Ernährungsweise und einem höheren Bewegungspensum sei nötig. »Dass verbreitete Ansicht ist, ein Medikament oder eine Behandlung müsse jede Erkrankung richten und man selbst müsse gar nichts tun, ist Teil des Problems«, sagt Maack.

Derzeit gelangen in Deutschland jährlich Tausende Tonnen biologisch aktive Wirkstoffe aus Human- und Tiermedizin über Abwässer, Klärschlamm und Gülle in die Umwelt. Mehr als 2000 verschiedene Substanzen sind im Handel. Das Problem wird an Brisanz gewinnen: Die Generation der Babyboomer erreicht das Rentenalter - und vor allem Senioren nehmen viele Medikamente. Verglichen mit dem Jahr 2015 sei bis 2045 mit einer bis zu 70-prozentigen Steigerung beim Einsatz rezeptpflichtiger Arzneimittel zu rechnen, sagt UBA-Experte Maack. Zudem summieren sich die Mengen vieler Substanzen in der Umwelt. »Arzneimittel sind oft sehr stabil verglichen mit anderen Chemikalien«, erklärt Maack. Schließlich seien sie dafür geschaffen, unwirtliche Körpergefilde wie den Magen-Darm-Trakt und Passagen durch Zellwände heil zu überstehen. In der Umwelt würden sie häufig nur sehr schlecht abgebaut und behielten ihre biologische Wirksamkeit lange Zeit.

Umweltverträglichkeit bei Arzneimittel-Entwicklung beachten

Bei Neuentwicklungen werde von Pharmafirmen auf noch mehr Haltbarkeit geachtet - zum Beispiel, damit Medikamente nur noch einmal statt zweimal täglich genommen werden müssen, sagt Maack. Die Umweltverträglichkeit werde bei der Entwicklung bisher gar nicht beachtet. Vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) heißt es dazu, dass es nur begrenzt möglich sei, chemisch-synthetische Wirkstoffe von vornherein gut biologisch abbaubar zu entwickeln.

Immer mehr, immer haltbarer: Was richtet das letztlich an? Konkrete Folgen eindeutig nachzuweisen, ist schwer. Gesicherte Zusammenhänge sind für den Menschen bisher nicht erfasst. Auch beobachtete Phänomene in der Umwelt lassen sich nur selten ursächlich auf einzelne Schadstoffe zurückführen, weil es insgesamt unzählige Schadstoffe und Einflussfaktoren gibt, die typischerweise in einem komplexen Netzwerk zusammenspielen, wie Maack erklärt. Hinzu kämen chronische Effekte und Veränderungen des Erbgutes, denen noch schwerer auf die Spur zu kommen sei. Klar ist, dass die Substanzen über die Wasserentnahme aus Gewässern und Grundwasser unvermeidbar auch ins Trinkwasser gelangen, ebenso in Mineralwasser. »Das ist nicht unbedingt weniger belastet als Wasser aus dem Hahn«, sagt Maack. Zwar liegen die Konzentrationen meist weit weg von den therapeutisch wirksamen. Die möglichen Langzeitfolgen für den Menschen sowie potenzielle Wechselwirkungen seien aber völlig unklar, gibt Maack zu bedenken. »Wir alle sind dafür die Langzeit-Probanden.«

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa