EU-Pharmapaket unter Beschuss |
Jennifer Evans |
10.11.2023 11:10 Uhr |
Diskussionsstoff bietet das EU-Pharmapaket seit Monaten. Doch jetzt kommt Tempo in die Sache. In einem guten halben Jahr stehen die Europawahlen an. / Foto: Adobe Stock/splitov27
Im Moment diskutiert das Europäische Parlament über die Reform des europäischen Arzneimittelrechts. Ziel des 500-Seiten starken EU-Pharmapakets, das die EU-Kommission im April dieses Jahres vorgestellt hatte, ist es, die Arzneimittelversorgung krisen- und zukunftssicher zu gestalten. Zudem will man die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen bekämpfen, die Arzneimittel-Knappheit in den Griff bekommen sowie Probleme des ungedeckten medizinischen Bedarfs angehen. Das EU-Vorhaben beinhaltet viel Zündstoff und hatte bereits in den vergangenen Monaten für viele Diskussionen gesorgt. Im ENVI-Ausschuss (Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit) haben nun die zuständigen Berichterstatter ihre Änderungsvorschläge an der Gesetzesnovelle präsentiert. Ihre Entwürfe gelten dann als Grundlage für die Entscheidung des EU-Parlaments.
Das Vorhaben erfordert eine Menge Kompromisse von allen Beteiligten. Und genau das ist auch die Herausforderung. Denn es sind neue Regeln und Anreize nötig, um allen EU-Bürgern den Zugang zu innovativen Medikamenten gleichermaßen zu ermöglichen. Dazu müssen Zulassungsverfahren gestrafft werden sowie sichergestellt sein, dass Medikamente stets verfügbar sind und trotz allem erschwinglich bleiben.
Knackpunkte in der Ausschuss-Debatte waren erneut die geplanten Voucher für Arzneimittel. Weil sich die Entwicklung neuer Antibiotika für die Hersteller nicht mehr lohnt, plant die EU-Kommission ein Anreizsystem. Das sieht so aus: Wer ein neues Antibiotikum mit neuem Wirkmechanismus oder neuer Antibiotikaklasse entwickelt, erhält dafür einen übertragbaren Exklusivgutschein. Damit kann der Hersteller entweder die Marktexklusivität eines seiner anderen Arzneimittel verlängern oder ihn an die Konkurrenz verkaufen.
Einer der Berichterstatter will dieses Anreiz-System nun komplett streichen. Die Begründung: Die Voucher hätten Einfluss auf die Preisbildung. Das sorge nicht nur für weniger Transparenz, sondern verzögere womöglich auch die Markteinführung von Generika und Biosimilars. Stattdessen bringt er eine neue Idee ins Spiel. Und zwar, mit öffentlichen Mitteln die Forschung zu unterstützen. Konkret geht es um einen öffentlichen Fonds, in den Unternehmen einzahlen sollen, die selbst nicht forschen. Gemeint ist eine eigens dafür geschaffene Einrichtung namens EU-Arzneimittelfazilität (EUF), die den Status einer unabhängigen EU-Agentur einnimmt und eigene Forschungs- und Entwicklungsprojekte verantwortet. Dabei soll sie auch selbstständig entscheiden dürfen, wo sie medizinische Marktlücken sieht und dann mit Blick auf das Interesse der Bevölkerung priorisieren. Diese Idee erntete aber aufgrund der erhöhten Bürokratie Kritik. Auch deshalb, weil einige Fraktionen dadurch einen zu großen staatlichen Eingriff in Gesundheitsbelange befürchten.
Ein anderer Alternativvorschlag des Berichterstatters befasst sich damit, die Anreize für Hersteller anders zu setzen. Zum Beispiel: Wer nicht selbst entwickelt, wird bestraft. Wer dagegen aber mit einer Innovation auf den Markt geht belohnt. Solche sogenannten Push- und Pull-Anreize kamen bei den Abgeordneten für den Bereich der Antibiotika zum Teil gut an, stießen aber auch auf Ablehnung, wenn es um seltene Erkrankungen geht. Auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hatte Anstoß an den derzeitigen Regelungen für seltene Erkrankungen genommen. Es mangelt ihm an Transparenz und klaren Kriterien, hieß es in einem Positionspapier.
Was Arzneimittel für seltene Erkrankungen betrifft, wurde dem EU-Parlament nun vorgeschlagen, die Zeitspanne der Marktexklusivität doch gegenüber dem EU-Kommissionsvorschlag zu verkürzen. Die aktuelle Version des Pharmapakets geht den Berichterstattern auch mit Blick auf den Arzneimittelmangel in Europa noch nicht weit genug. Sie würden gerne die Melde- und Informationspflichten für die Industrie nachschärfen, um Engpässe noch besser voraussagen zu können. Verankert sein sollte in der Reform aus ihrer Sicht ebenfalls die Möglichkeit, über eine EU-weite Datenbank auf Informationen zur Arzneimittelknappheit zugreifen zu können.
Für die Fristen für den Unterlagenschutz hatte die EU-Kommission sechs Jahre vorgesehen. Von den Berichterstattern wird nun eine Ausweitung auf neun Jahre angeregt. Die Abgeordneten erachten allerdings verkürzte Schutzfristen für wenig zielführend und fordern generell mehr Anreize, um die Pharma-Produktion nach Europa (zurück)zuholen.
Was die Arzneimittel-Packungsbeilagen angeht, gibt es außerdem Ergänzungsvorschläge, um sie künftig verständlicher und zugänglicher zu machen, unter anderem sollen sie durch Sensibilisierungskarten in Papierform oder elektronischer Form ergänzt werden, »um sicherzustellen, dass diese Informationen den
Patienten ordnungsgemäß zugehen«, wie es heißt. Die Abgeordneten warnten allerdings davor, die elektronischen Formen zu überschätzen. Der Zugang zu einer Papier-Version müsse bleiben. Auch die ABDA hatte bereits eine Einschätzung zum EU-Pharmapaket abgegeben. Unter anderem hatte die Bundesvereinigung von der Einführung einer elektronischen Packungsinformation abgeraten sowie Anstoß an der geplanten Ausweitung der Definition eines Arzneimittels genommen.
Einigen Abgeordneten fehlt zudem ein konkreter Plan, wie ärmere Mitgliedstaaten in Zukunft einen erleichterten Zugang zu Innovationen erhalten sollen. Diskutiert wird, ob zum Beispiel Pharmaunternehmen grenzüberschreitend Preise festsetzen oder sich verpflichten, diese zu senken. Auch die gemeinsame Beschaffung von Präparaten gegen seltene Leiden im Rahmen eines EU-Aktionsplans steht im Raum. Insgesamt sehen die EU-Abgeordneten im Pharmapaket zu große Zugeständnisse an die Industrie.
Nun müssen sich die Mitglieder des ENVI-Ausschusses mit ihren Änderungsanträgen beeilen. Bis zum 14. November haben sie Zeit. Ziel ist es, das Pharmapaket noch vor der nächsten Europawahl – zumindest in erster Lesung – ins EU-Parlament zu bringen.