Es gibt mehr als Mann und Frau |
Daniela Hüttemann |
27.09.2022 15:00 Uhr |
Wenn ein Baby mit nicht ganz eindeutigen Anlagen auf die Welt komme, reagiere das Personal im Kreißsaal zu oft nicht optimal, falls es nicht entsprechend sensibilisiert und geschult sei, berichtete die Psychologin. Bei anderen Betroffenen seien Abweichungen nicht sofort äußerlich ersichtlich, sondern fielen erst in der Pubertät auf.
Ein Beispiel ist der 5-α-Reduktase-Mangel, bei dem es zu einem Testosteron-Überschuss kommt. »Die Betroffenen sehen nach der Geburt eindeutig weiblich aus, virilisieren dann jedoch während der Pubertät«, erklärte die Referentin. »Wenn sich jemand vorher klar als Mädchen gesehen hat und dann plötzlich in den Stimmbruch kommt oder sich gar aus der Klitoris ein kleiner Penis entwickelt, ist das ein großer Schreck.«
Ein weiteres, relativ häufiges Beispiel ist die komplette Androgen-Resistenz (Complete Androgen Insensitivity Syndrome, CAIS), auch Goldberg-Maxwell-Morris-Syndrom und früher despektierlich Hairless Woman Syndrome genannt. Es liegt ein komplett weiblicher Phänotyp vor und die Betroffenen fühlen sich weiblich, haben aber einen XY-Chromosomensatz. Auf dem X-Chromosom bewirkt eine Mutation eine Veränderung im Androgen-Rezeptor, der nun Testosteron nur eingeschränkt binden kann. Statt Eierstöcke liegen Hodenanlagen im Bauch- oder Leistenraum, die entarten können. Während eine Vagina ausgebildet ist, fehlt die Gebärmutter. Die Schambehaarung bleibt aus.
Mit einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung könne man gut unbehandelt leben, daher spreche man auch nicht mehr von Störung (Disorder), berichtete die Referentin. Andere Varianten sind aus medizinischer Sicht hormonell behandlungsbedürftig oder der/die Betroffene wünscht eine Angleichung. Die Evidenzlage zu Therapie und Outcomes sei allerdings noch alles andere als breit.
Hormone seien bei einer verminderten oder komplett fehlenden Hormonproduktion in den Gonaden (also Hoden oder Eierstöcken) sowie nach chirurgischer Entfernung der Gonaden angezeigt, da ein Mangel an Sexualhormonen sich unter anderem negativ auf die Knochengesundheit sowie das allgemeine, psychische und sexuelle Wohlbefinden auswirke, erklärt Marshall. Je nach Diagnose könnten Hormone eingesetzt werden, um eine »falsche« Pubertätsentwicklung zu verhindern oder hinauszuzögern (mit GnRH-Analoga) oder genau umgekehrt, um die Pubertät und Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale oder einen Wachstumsschub anzustoßen (zum Beispiel mit Estradiolvalerat).