Es gibt mehr als Mann und Frau |
Daniela Hüttemann |
27.09.2022 15:00 Uhr |
Der violette Kreis auf gelbem Grund steht für Intersexualität, wobei dieser Begriff umstritten ist. Bevorzugt wird von »Varianten der Geschlechtsentwicklung« gesprochen. / Foto: Adobe Stock/nito
Medizinisch korrekt und von den Betroffenen akzeptiert spricht man mittlerweile eher von »Varianten in der Geschlechtsentwicklung« (Difference of Sex Development DSD) als von »Intersexualität«, wenn jemand körperlich, also die inneren und/oder äußeren Genitalien betreffend, nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen biologischen Geschlecht zuzuordnen ist. Davon abzugrenzen ist der Begriff »Transgender«. Dabei geht es um die Geschlechtsidentität. Hier empfindet sich die betroffene Person nicht ihrem klar definierten biologischen Geschlecht zugehörig.
»Es gibt viele Zwischenformen bei der Geschlechtsentwicklung – derzeit klassifiziert man mehr als 80 Diagnosen«, erklärte die auf das Thema spezialisierte Psychologin Louise Marshall vom Hormonzentrum für Kinder und Jugendliche am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein bei einer Fortbildungsveranstaltung der dortigen Apothekerkammer am vergangenen Wochenende in Kiel.
Für viele sei das ungewohnt. Dabei habe es schon immer Zwischenformen gegeben, wie Darstellungen von sogenannten Hermaphroditen aus dem antiken Griechenland zeigten, so die Expertin. Doch während man damals diese Menschen schon fast als Gottheiten verehrte, erleben Personen mit DSD heute eher Stigmatisierung und sind vielerorts medizinisch noch unterversorgt. Marshall fungiert am UKSH unter anderem als Betroffenen-Navigatorin, die zwischen verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen, Hebammen, Ämtern und Hilfsangeboten vermittelt.
»Ob jemand eher männlich oder weiblich ist, liegt übrigens nicht allein an den Chromosomen«, erklärte Marshall. Diese seien gewissermaßen die Hardware. Doch erst unter Einfluss der Sexualhormone als »Software« in der Embryonal- und Fetalentwicklung sowie in der Pubertät prägen sich die inneren und äußeren Genitalien aus.
Wenn ein Baby mit nicht ganz eindeutigen Anlagen auf die Welt komme, reagiere das Personal im Kreißsaal zu oft nicht optimal, falls es nicht entsprechend sensibilisiert und geschult sei, berichtete die Psychologin. Bei anderen Betroffenen seien Abweichungen nicht sofort äußerlich ersichtlich, sondern fielen erst in der Pubertät auf.
Ein Beispiel ist der 5-α-Reduktase-Mangel, bei dem es zu einem Testosteron-Überschuss kommt. »Die Betroffenen sehen nach der Geburt eindeutig weiblich aus, virilisieren dann jedoch während der Pubertät«, erklärte die Referentin. »Wenn sich jemand vorher klar als Mädchen gesehen hat und dann plötzlich in den Stimmbruch kommt oder sich gar aus der Klitoris ein kleiner Penis entwickelt, ist das ein großer Schreck.«
Ein weiteres, relativ häufiges Beispiel ist die komplette Androgen-Resistenz (Complete Androgen Insensitivity Syndrome, CAIS), auch Goldberg-Maxwell-Morris-Syndrom und früher despektierlich Hairless Woman Syndrome genannt. Es liegt ein komplett weiblicher Phänotyp vor und die Betroffenen fühlen sich weiblich, haben aber einen XY-Chromosomensatz. Auf dem X-Chromosom bewirkt eine Mutation eine Veränderung im Androgen-Rezeptor, der nun Testosteron nur eingeschränkt binden kann. Statt Eierstöcke liegen Hodenanlagen im Bauch- oder Leistenraum, die entarten können. Während eine Vagina ausgebildet ist, fehlt die Gebärmutter. Die Schambehaarung bleibt aus.
Mit einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung könne man gut unbehandelt leben, daher spreche man auch nicht mehr von Störung (Disorder), berichtete die Referentin. Andere Varianten sind aus medizinischer Sicht hormonell behandlungsbedürftig oder der/die Betroffene wünscht eine Angleichung. Die Evidenzlage zu Therapie und Outcomes sei allerdings noch alles andere als breit.
Hormone seien bei einer verminderten oder komplett fehlenden Hormonproduktion in den Gonaden (also Hoden oder Eierstöcken) sowie nach chirurgischer Entfernung der Gonaden angezeigt, da ein Mangel an Sexualhormonen sich unter anderem negativ auf die Knochengesundheit sowie das allgemeine, psychische und sexuelle Wohlbefinden auswirke, erklärt Marshall. Je nach Diagnose könnten Hormone eingesetzt werden, um eine »falsche« Pubertätsentwicklung zu verhindern oder hinauszuzögern (mit GnRH-Analoga) oder genau umgekehrt, um die Pubertät und Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale oder einen Wachstumsschub anzustoßen (zum Beispiel mit Estradiolvalerat).
»Hormone sollten immer erst nach sorgfältiger Diagnose, gutem Diagnoseverständnis der Patienten und einer intensiven Aufklärung verordnet werden«, fasste Marshall zusammen. »Es muss vorher geklärt werden, welche Geschlechtsidentität die Person hat, wie sie sich sieht. Und die Betroffenen müssen wissen, was in der Pubertät sonst passieren würde.« Die Therapie erfolge dann immer individualisiert, die Dosierung in kleinen Schritten.
»Auch Transgender-Kinder können mit GnRH-Analoga behandelt werden, damit sie mit zehn oder elf Jahren nicht in eine Entwicklung gehen, die sie nicht wollen«, so Marshall. Wenn eine Transition gewünscht sei, gebe man die gegengeschlechtlichen Hormone.
Ob Transgender oder intersexuell: »Kinder sollten sich selbst äußern dürfen, wie sie später einmal leben wollen«, plädierte die Psychologin. Dafür müsse man sie gut aufklären und stärken. Und auch die Gesellschaft müsse besser aufgeklärt und offener werden.