Erste orale Akuttherapie |
| Sven Siebenand |
| 07.11.2025 07:17 Uhr |
Unabhängig von Lokalisation und Schweregrad sollte jede Attacke eines hereditären Angioödems so früh wie möglich behandelt werden. Der Name des Sebetralstat-haltigen Mittels Ekterly® soll daran erinnern: act early! / © PZ (KI-generiert)
Das hereditäre Angioödem (HAE) ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, die durch wiederkehrende, spontan auftretende Schwellungen der Haut oder Schleimhäute gekennzeichnet ist. Attacken im Pharynx oder Larynx sind häufig lebensbedrohlich. Die Prävalenz der Erkrankung liegt bei etwa 1:50.000.
Der zugrunde liegende Gendefekt führt zu einem Mangel an funktionellem C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH). Entweder wird C1-INH nicht in ausreichender Menge gebildet oder seine Funktion ist beeinträchtigt. C1-INH hemmt unter anderem Faktor XI, Faktor XII und Kallikrein. Bei fehlender Regulation kommt es über Kallikrein zu einer unkontrollierten Freisetzung von Bradykinin. Dieses vasoaktive Peptid spielt eine wichtige Rolle bei der Vasodilatation und der Kapillarpermeabilität. Bei gestörter Regulation tritt zu viel Flüssigkeit aus den Blutgefäßen in das umliegende Gewebe aus, wodurch die charakteristischen Schwellungen entstehen.
Internationale Leitlinien empfehlen, jede HAE-Attacke so früh wie möglich zu behandeln – unabhängig von Lokalisation oder Schweregrad. Zur Akuttherapie wurden bislang aus Blutplasma gewonnene oder rekombinante C1-INH-Präparate sowie der Antagonist des Bradykinin-B2-Rezeptors Icatibant eingesetzt, die intravenös oder subkutan verabreicht werden.
Sebetralstat ist nun die erste oral verfügbare Akuttherapie. Es handelt sich um einen Inhibitor von Plasmakallikrein. Der Wirkstoff wird im Magen-Darm-Trakt rasch resorbiert und bereits 15 Minuten nach der Einnahme ist die Aktivität des Enzyms um etwa 80 Prozent reduziert. Durch die Blockade von Plasmakallikrein wird weniger Bradykinin freigesetzt und das Fortschreiten von Angioödem-Anfällen wird gestoppt.
Der Wirkmechanismus funktioniert auch zur Prophylaxe von HAE-Attacken. Auf ihm basieren die beiden Wirkstoffe Lanadelumab und Berotralstat, die bereits im Handel sind, aber im Gegensatz zu Sebetralstat nur zur Prophylaxe und nicht zur Akuttherapie zugelassen sind. Das genaue Anwendungsgebiet des neuen Wirkstoffs ist die symptomatische Behandlung von akuten HAE-Attacken bei Erwachsenen und Jugendlichen ab zwölf Jahren.
Grundlage für die Zulassung sind die Ergebnisse der randomisierten und placebokontrollierten Phase-III-Studie Konfident. 136 HAE-Patienten ab einem Alter von zwölf Jahren nahmen daran teil. 110 von ihnen behandelten insgesamt 264 HAE-Attacken, unabhängig von Lokalisation oder Schweregrad.
Der primäre Endpunkt war die Zeit bis zum Einsetzen der Symptomlinderung, definiert als eine Bewertung von mindestens »etwas besser« zu zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten auf der PGI-C-Skala (Patient Global Impression of Change), die subjektive Veränderungen von »viel schlechter« bis »viel besser« abbildet. Der primäre Endpunkt wurde mit Sebetralstat 300 mg und 600 mg signifikant schneller erreicht als unter Placebo (Median: 1,61 beziehungsweise 1,79 Stunden versus 6,72 Stunden).
Jede Packung Ekterly® enthält sechs einzeln verpackte Tabletten. / © Kalvista Pharmaceuticals
Auch bei den sekundären Endpunkten schnitt Sebetralstat signifikant besser ab als Placebo. Damit der erste sekundäre Endpunkt als erreicht galt, musste es innerhalb von zwölf Stunden auf der fünfstufigen PGI-S-Skala (Patient Global Impression of Severity), einem Maß zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung aus Sicht des Patienten, zu einer anhaltende Abnahme des Schweregrades um mindestens eine Stufe gekommen sein. Hier betrug die mediane Zeit bis zum Eintritt 9,27 Stunden (300 mg), 7,75 Stunden (600 mg) und mehr als 12 Stunden (Placebo).
Der zweite sekundäre Endpunkt war eine vollständige Auflösung der Attacke innerhalb von 24 Stunden. Dieser wurde unter Sebetralstat bei 42,5 Prozent (300 mg) beziehungsweise 49,5 Prozent (600 mg) der Attacken erreicht, verglichen mit 27,4 Prozent unter Placebo.
Die empfohlene Dosis von Sebetralstat beträgt eine 300-mg-Tablette. Patienten sollten diese bei den ersten Anzeichen einer bevorstehenden Attacke schlucken. Wenn kein ausreichendes Ansprechen erzielt wird oder die Symptome sich verschlimmern oder zurückkehren, können Patienten drei Stunden nach der ersten Dosis eine zweite Dosis anwenden. Innerhalb von 24 Stunden dürfen sie nicht mehr als zwei Dosen einnehmen.
Bei Patienten, die moderate oder starke CYP3A4-Induktoren einnehmen, wird eine Einzeldosis von 900 mg (drei Tabletten à 300 mg) zur Behandlung einer HAE-Attacke empfohlen. Die Anwendung bei Patienten mit schwerer Leberfunktionsstörung wird nicht empfohlen. Die häufigste beobachtete Nebenwirkung ist Kopfschmerz.
Sebetralstat kann das QT-Intervall am Herzen verlängern. Dies trifft nur für hohe Konzentrationen zu, die mit der empfohlenen Dosis wahrscheinlich nicht erreicht werden. In der Fachinformation heißt es aber dennoch, dass es keine Daten zur Anwendung von Sebetralstat bei Patienten mit unabhängigen Risikofaktoren für eine QT-Verlängerung gibt, etwa einer bekannten, bereits bestehenden QT-Verlängerung, Elektrolytstörungen oder gleichzeitiger Anwendung von anderen Arzneimitteln, die das QT-Intervall verlängern. Bei solchen Patienten sei aufgrund des Risikos für eine QT-Verlängerung Vorsicht geboten. Dies gelte insbesondere für Patienten mit mehr als einem Risikofaktor.
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung mit Ekterly und für einen Zeitraum von 24 Stunden nach der letzten Dosis eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Ekterly darf während der Schwangerschaft nur dann angewendet werden, wenn der potenzielle Nutzen der Behandlung das potenzielle Risiko für den Fetus rechtfertigt. Tierexperimentelle Studien haben Reproduktionstoxizität gezeigt. Bei Stillenden ist eine Entscheidung zu treffen, ob auf Sebetralstat verzichtet wird oder das Stillen nach der Einnahme des Wirkstoffs für 24 Stunden unterbrochen werden soll.
Der Wirkmechanismus von Sebetralstat ist nicht neu. Auch handelt es sich nicht um die erste zugelassene Akuttherapie beim hereditären Angioödem. Dennoch ist es gerechtfertigt, von einer Schrittinnovation zu sprechen, weil es sich um die erste oral verfügbare Akuttherapie handelt. Bisher standen für Betroffene nur subkutan oder intravenös zu verabreichende Medikamente zur Verfügung. Unter Umständen zögerten manche Patienten wegen der unbequemeren Applikationsart bisher oder verzichteten ganz auf eine Akuttherapie – mit dem Risiko eines schweren Verlaufes. Real-World-Daten zeigen beispielsweise, dass vom Erkennen der Attacke bis zur Therapie im Durchschnitt mehr als drei Stunden vergehen. Dabei ist die Attackenlast umso höher, je später gehandelt wird.
Als erste oral verfügbare Akuttherapie eröffnet Sebetralstat nun die Möglichkeit, viele der in der Praxis beschriebenen praktischen und psychologischen Hürden parenteraler Anwendungen zu vermeiden und die möglichst frühe, situationsunabhängige Behandlung zu erleichtern. Die Tabletten lassen sich leicht mitführen und im Bedarfsfall einnehmen.
Die Zulassungsstudie Konfident belegt die Wirksamkeit der Therapie und eine signifikant schnellere Symptomlinderung im Vergleich zu Placebo. Dabei zeigte sich die Wirksamkeit unabhängig von Lokalisation und Schweregrad, einschließlich laryngealer Attacken. Die Betroffenen reagierten schnell auf die Attackensymptome, im Median innerhalb von 41 Minuten. Ekterly soll an »act early« erinnern und genau das tun die Patienten offensichtlich auch.
Gut möglich, dass zukünftig auch der Einsatz von Sebetralstat bei Kindern im Alter von zwei bis elf Jahren eine Zulassung erhalten wird. Entsprechende Studien laufen. Zudem arbeitet der Hersteller an einer orodispersiblen Sebetralstat-Tablette, die schnell im Mund zerfällt.
Sven Siebenand, Chefredakteur