Der hohe Preis einer ersten Herdenimmunität |
Theo Dingermann |
28.09.2020 09:16 Uhr |
Bilder von Massengräbern in Manaus zeigen den hohen Preis, den die Stadt für eine mögliche Herdenimmunität gezahlt hat. / Foto: Getty Images/Zé Martinusso
Nach einem fulminanten Anstieg der Infektionsrate im März und April in Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Amazonas, nahm von Mai bis September das Infektionsgeschehen stetig ab. Im Juni, einen Monat nach dem Höhepunkt der lokalen SARS-CoV-2-Epidemie, hatten Wissenschaftler um Lewis F. Buss vom Institut für Tropenmedizin der Universität von São Paulo mehr als 1000 Proben von Blutspendern untersucht und in circa 44 Prozent dieser Proben Antikörper gegen das neue Corona-Virus nachgewiesen.
Zwar sank dann im Juli und August die Seroprävalenz wieder. Dies führen die Wissenschaftler jedoch auf die langsam abnehmenden Antikörpertiter nach einer SARS-CoV-2-Infektion zurück. Buss und Kollegen berichten in einer Arbeit, die kürzlich auf dem Preprintserver medRxiv veröffentlicht wurde und somit noch nicht unabhängig begutachtet wurde, dass nach ihren Berechnungen die kumulative Infektionsinzidenz in der brasilianischen Metropole bei 66 Prozent liegen sollte. Dieser Wert liegt in der Größenordnung, bei der sich eine Herdenimmunität gegen das Virus etabliert haben könnte.
Allerdings ist bei der Interpretation der Daten Vorsicht geboten, denn Blutspender sind nicht zwingend repräsentativ für eine »Normalpopulation«. So enthält eine solche Gruppe beispielsweise keine Kinder oder ältere Personen. Konkret sind in Brasilien Kinder unter 16 Jahren und Erwachsenen ab 70 Jahren von der Blutspende ausgeschlossen. Und natürlich dürfen Blutspender auch keine typischen Covid-19-Symptome zeigen.
Zudem arbeiten die Forscher an mehreren Stellen mit Korrekturannahmen, die viele der publizierten Daten als »indirekt« qualifizieren. Beispielsweise argumentieren die Wissenschaftler, dass Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen ihrer und einer älteren Studie auf methodische Mängel der älteren Studie zurückzuführen seien, die unter anderem zur Folge gehabt haben sollen, dass viele Resultate als falsch negativ eingestuft werden müssten.
Sollte jedoch in der Stadt inzwischen tatsächlich eine Herdenimmunität erreicht worden sein, wie die Autoren der Studie zu zeigen glauben, wäre das Prädikat »erste Stadt mit Herdenimmunität« teuer erkauft. Denn aus Manaus gingen erschreckende Bilder von Massengräbern um die Welt.
Die Forscher leiten aus ihren Daten eine Sterberate von mindestens 0,28 Prozent ab. Das entspricht ungefähr einem Verstorbenen pro 400 Infizierten. Das wäre gerade für Manaus ein erschreckend hoher Wert. Denn in der Stadt dominiert zahlenmäßig ein junger Bevölkerungsanteil. Nur 6 Prozent der Menschen in Manaus gehören zur Risikogruppe der über 60-Jährigen.
Die Welt wird in den kommenden 24 Stunden wahrscheinlich einen traurige Marke überschreiten, wie die New York Times berichtet: Mehr als eine Million Tote durch Covid-19. Diese Marke wurde am 29. September erreicht. Indien, die zweitbevölkerungsreichste Nation der Welt, führt bei den täglichen virusbedingten Todesfällen. An zweiter Stelle stehen die USA, an dritter und vierter Stelle Brasilien und Mexiko. Diese vier Länder sind für mehr als die Hälfte aller durch das Virus verursachten Todesfälle weltweit verantwortlich.
Dass tatsächlich Aspekte einer Herdenimmunität das aktuelle Infektionsgeschehen in Manaus beeinflussen könnten, scheint durchaus plausibel. Denn seit Mai gehen die Zahlen der Neuinfektionen und Todesfälle in Manaus deutlich zurück. Die brasilianische Metropole jedoch um diesen Status quo zu beneiden, erscheint kaum angebracht. Denn tatsächlich dokumentiert die Entwicklung auch ein totales Versagen derjenigen, die für die Kontrolle der Epidemie verantwortlich zeichnen. So muss man zur Kenntnis nehmen, dass nicht etwa nicht-pharmakologische Verhaltensregeln zur Kontrolle der Epidemie führten, sondern eine völlig außer Kontrolle geratene Infektionsdynamik mit der Konsequenz einer viel zu hohen Opferrate.
Gründe für diese Entwicklung könnten in der Bevölkerungsdemografie, im Sozialverhalten, in der Anfälligkeit für Infektionen sowie in der Umsetzung und Einhaltung nicht-pharmazeutischer Maßnahmen zu finden sein. Herdenimmunität scheint möglich – warum auch nicht. Das zeigt nun auch diese Studie aus Manaus. Allerdings sollte Herdenimmunität nicht durch ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen unter Inkaufnahme hoher Todesraten erreicht werden, sondern mithilfe wirksamer und gut verträglicher Impfstoffe, die hoffentlich zeitnah zur Verfügung stehen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.