Der etwas andere Fall |
Laura Rudolph |
13.01.2025 18:00 Uhr |
Manchmal stellen sich beim Patientengespräch Dinge heraus, die Heilberufler sonst nicht herausfinden könnten. So auch in diesem Fall. / © Getty Images/Nastasic
Es begann damit, dass der Ehemann der mittlerweile recht immobilen Patientin die Apothekerin aufsuchte, um die umfangreiche Medikation seiner Frau prüfen zu lassen. Die Patientin hatte Typ-2-Diabetes, eine eingeschränkte Nierenfunktion und Bluthochdruck, der nach Aussagen des Mannes mit Werten von 120 zu teils nur 50 mmHg jedoch gut eingestellt sei.
In letzter Zeit sei seine Frau sehr müde, habe Haarausfall und so starke Ödeme an den Knöcheln, dass sie wegen der Schmerzen ihre Kompressionsstrümpfe nicht mehr tragen könne. Gegen die Schmerzen erhalte sie nun zusätzlich zu Novaminsulfon auch noch zwei Hydromorphon-Präparate als Dauertherapie und gegen Schmerzspitzen.
Die Patientin nahm 15 Dauer- und zwei Bedarfsmedikamente. »Wenn ich so einen riesigen Medikationsplan vor mir habe, portioniere ich mir diesen in kleine, verdauliche Happen«, erklärte Fleige. Sie sortiere die Arzneimittel beispielsweise gerne nach Indikation.
Arzneistoff | Dosierung | Einnahmezeitpunkt |
---|---|---|
L-Thyroxin | 75 µg | 1-0-0-0 |
Poly(styrol-co-divinylbenzol)sulfonsäure (Kaliumbinder) | 12-g-Beutel | 0-1-0-0 |
Amlodipin | 10 mg | 1-0-1-0 |
Atorvastatin | 40 mg | 0-0-1-0 |
Urapidil | 30 mg | 1-0-1-0 |
Enalapril | 5 mg | 1,5-0-1,5-0 |
Sitagliptin | 25 mg | 1-0-0-0 |
Pantoprazol | 40 mg | 1-0-0-0 |
Mirtazapin | 30 mg | 0-0-1-0 |
Novaminsulfon | 500 mg | 1-0-2-2 |
Humaninsulin | 100 I.E. | 0-0-1-0 |
Natriumhydrogencarbonat | 1000 mg | 1-0-0-0 |
Allopurinol | 100 mg | 1-0-0-0 |
Colecalciferol | 1000 I.E. | 1-0-0-0 |
Hydromorphon (retadiert) | 4 mg | 1-0-1-0 |
Hydromorphon | 1,16 mg | bei Bedarf |
Quetiapin | 25 mg | bei Bedarf zur Nacht |
Beim Check der Blutdruckmedikation – Amlodipin, Urapidil und Enalapril – fiel auf, dass Amlodipin mit einer Tagesdosis von 20 mg doppelt so hoch dosiert war wie in der Fachinformation empfohlen. Die Apothekerin hatte den Verdacht, dass die Knöchelödeme als Nebenwirkung des Calciumkanal-Blockers Amlodipin auftraten. Dafür sprach auch, dass der Mann berichtete, dass er seit einiger Zeit das ihm verordnete Torasemid 5 mg mit seiner Frau teile – dies aber nicht gegen ihre Ödemen helfe. »Das war eine Information, die der behandelnden Ärztin völlig fehlte, das hatte er ihr nämlich nicht verraten«, sagte Fleige.
Im Zusammenhang mit der Hydromorphon-Medikation gegen die starken Ödemschmerzen fiel außerdem auf, dass auf dem Medikationsplan ein Abführmittel gegen opioidbedingte Verstopfung fehlte. Der Mann kaufte für seine Frau häufig Abführtropfen und Macrogol als OTC-Präparate.
Um der Müdigkeit und dem Haarausfall auf die Spur zu kommen, nahm Fleige die Schilddrüsen-Medikation der Patientin unter die Lupe: 75 µg Levothyroxin, die vorbildlich morgens bereits auf der Bettkante sitzend genommen wurden.
Im Gespräch mit dem Mann offenbarte sich ein auf dem Medikationsplan nicht ersichtliches Problem. Die Patientin nahm einen Kaliumbinder gegen Hyperkaliämie ein, um die Niere zu entlasten – laut Plan mittags. Da ein mobiler Pflegedienst den Kaliumbinder jedoch statt mittags schon morgens stellte, war der Einnahmeabstand zwischen L-Thyroxin und dem Kaliumbinder mit nur einer halben Stunde deutlich zu kurz, was die Wirkung der Schilddrüsentablette abschwächen kann.
Gegen den Typ-2-Diabetes nahm die Patientin Sitagliptin ein und spritzte Humaninsulin. Im weiteren Gespräch erklärte der Ehemann, dass die Patientin in letzter Zeit morgens häufiger eine Unterzuckerung habe. Das sei aber kein Problem, da ein oder zwei Löffel Zucker dagegen schon helfen würden.
»Es stellte sich heraus, dass die Frau in den letzten sechs bis zwölf Monaten um die 20 kg abgenommen hatte, die Medikation aber nicht an diesen massiven Gewichtsverlust angepasst wurde«, erzählte Fleige. Das passierte möglicherweise aufgrund eines Arztwechsels: Früher sei die Frau durch eine Diabetologin betreut worden; da sie aber zunehmend immobil geworden sei, habe die nähergelegene Hausärztin die Diabetesversorgung mit übernommen.
Im Rahmen der Medikationsanalyse erarbeitete die Apothekerin schließlich einige Optimierungsvorschläge, darunter die folgenden:
»Leider hatte der Ehemann der Patientin mir keine Zustimmung erteilt, die Ergebnisse direkt mit der Ärztin zu besprechen. Das wolle er selbst übernehmen«, schilderte Fleige, die ihm daraufhin einen Ergebnisbericht zur Vorlage bei der Ärztin mitgab. Von dieser sei der Mann übrigens nicht so überzeugt, wie er im Gespräch habe verlauten lassen.
Die Ärztin habe wenige Tage später erbost in der Apotheke angerufen. »Das war die erste Ärztin, die mich nach einer Medikationsanalyse durchs Telefon ziehen wollte«, schmunzelte die Apothekerin.
Es stellte sich heraus, dass der Mann der Patientin die Medikationsanalyse zum Anlass nahm, der Ärztin Unwissen zu unterstellen. Sein Vorwurf: der Ergebnisbericht zeige nun schwarz auf weiß, dass sie seiner Frau mit den vielen Medikamenten nur schade. »Ich kann Ihnen sagen, die Hausärztin war nicht besonders glücklich darüber«, so Fleige. Die Ärztin warf wiederum der Apothekerin vor, wie diese den Patienten nur so verunsichern könnte.
Das Missverständnis – und dass sich Fleige niemals schlecht über die Ärztin geäußert hatte – konnte am Telefon schnell geklärt werden, berichtete die Apothekerin. Schnell seien sich die Heilberuflerinnen einig gewesen, dass der Mann etwas überfordert war mit der ganzen Situation seiner Frau.
»Am Schluss hat die Ärztin sogar fast alle Vorschläge umgesetzt«, freute sich Fleige. Und das mit Erfolg: Nach der Dosisreduktion von Amlodipin gingen die Ödeme so stark zurück, dass Hydromorphon komplett abgesetzt werden konnte, wodurch auch die Verstopfung abnahm. Ebenfalls komplett abgesetzt wurden Insulin und Urapidil. Durch den ausreichenden Einnahmeabstand zum Kaliumbinder konnte zudem die L-Thyroxin-Dosis von 75 auf 50 µg reduziert werden.
»Ich glaube, nach diesem Ergebnis können Sie gut nachvollziehen, warum dieser Fall trotz des Anrufs mein absoluter Lieblingsfall des Jahres war«, betonte Fleige abschließend.