Den Zucker stets im Blick behalten |
Daniela Hüttemann |
31.08.2022 14:00 Uhr |
Bei kontinuierlichen Blutzuckermesssystemen ist eine zugehörige App zur Auswertung bereits Standard. Es gibt aber auch noch andere hilfreiche Programme mit multimodalem Therapieansatz. / Foto: Getty Images/JGalione
Bislang gibt es weder in der Nationalen Versorgungs-Leitlinie für Typ-2-Diabetes aus dem Jahr 2021 noch in der S3-Leitlinie zur Therapie des Typ-1-Diabetes aus dem Jahr 2018 konkrete Empfehlungen für eine digitale Therapieunterstützung. Allerdings prüft die NVL derzeit digitale Unterstützungsmöglichkeiten zum Monitoring des Therapieverlaufs und der Behandlungserfolge. Diese sind mittlerweile zahlreich.
Viele Anbieter von Insulinpens und Glucosemesssystemen halten schon seit Längerem passende Apps zu ihren Geräten bereit, zum Beispiel »FreeStyle Libre« von Abbott, »Eversense CGM« von Ascensia, »BD Diabetes Care« oder »InPen« von Medtronic. Weitere Beispiele finden sich im Titelbeitrag der PZ 17/2021 zu digital vernetzten Arzneiformen.
Darüber hinaus gibt es unzählige einfache Anwendungen wie Diabetestagebücher (zum Beispiel »SiDiary«), Ernährungs-Apps wie »Snaq«, mit denen sich per Foto die Nährwerte bestimmen lassen, Fitnesstracker und Motivationshilfen oder Arzneimittelmanager mit Erinnerungsfunktion und Medikationsplan (zum Beispiel »MyTherapy«). Wir stellen im Folgenden einige umfangreichere Programme speziell für Menschen mit Diabetes vor.
Für solche digitalen Therapieinterventionen ergab eine Metaanalyse aus dem Jahr 2020, dass sie den Langzeitblutzuckerwert HbA1c im Schnitt um 0,4 bis 0,8 Prozent absenken können und damit eine vergleichbare Wirkung zu oralen Antidiabetika haben.
In der Serie »PZ App-Check« stellt die PZ digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) indikationsbezogen vor, ergänzt durch weitere aus Sicht der Redaktion empfehlenswerte Gesundheits-Apps. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und es erfolgt keine detaillierte Bewertung. Geachtet wird etwa auf die Seriosität der Anbieter, die Verfügbarkeit sowohl für Apple- als auch Android-Nutzer und die Verfügbarkeit der App in deutscher Sprache. Bisher erschienen sind Beiträge zu den Indikationen Übergewicht, Tinnitus, Depressionen, Reizdarm, Heuschnupfen, Neurodermitis, weiblicher Zyklus, Reisemedizin, COPD, MS, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Schlaganfall und kritischem Alkoholkonsum, die hier zu finden sind.
Das DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte enthält derzeit drei digitale Gesundheitsanwendungen für Diabetiker, die auf Kosten der Krankenkassen verordnet werden können. Die erste dort aufgenommen Diabetes-App war »Esysta App & Portal – Digitales Diabetes-Management« von der Firma Emperra aus Potsdam. Diese DiGA richtet sich an insulinpflichtige Diabetiker, sowohl vom Typ 1 als auch vom Typ 2. Daten aus kompatiblen Blutzuckermessgeräten und Insulinpens lassen sich automatisch in ein Tagebuch importieren. Auch eine manuelle Dateneingabe ist möglich. Zudem können die konsumierten Broteinheiten dokumentiert werden.
Eine Tagesauswertung informiert den Patienten per Ampelsystem, ob unter anderem oft genug gemessen wurde, Hyper- oder Hypoglykämien auftraten und wie die Schwankungsbreite des Blutzuckerspiegels ist; ob er sich also im gewünschten Behandlungskorridor befindet. Dazu gibt es Sieben-Tage-Trends mit wöchentlichen Empfehlungen zur Verbesserung der Therapietreue. Zudem prognostiziert das Programm anhand der gesammelten Daten den voraussichtlichen HbA1c-Wert.
Nach Freigabe durch den Patienten kann auch der behandelnde Arzt über ein Onlineportal die Daten einsehen. Bislang ist Esysta nur vorläufig in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Gemäß einer Studie sank der HbA1c-Wert unter Esysta-Nutzung im Durchschnitt um 0,9 Prozent. Auch ältere Patienten nahmen teil und kamen mit der App gut zurecht.
Neu im April 2022 und zunächst vorläufig aufgenommen ist »Vitadio« vom gleichnamigen tschechischen Hersteller. Dieses multimodale Behandlungsprogramm ist für Typ-2-Diabetiker gedacht. Es legt den Fokus auf die Gewichtsreduktion und eine gesunde Ernährung, wodurch auch der Blutzucker sinken soll – aber ohne radikale Diäten oder exzessives Sportprogramm. Der Patient soll nicht überfordert werden. Er kann die Lektionen im eigenen Tempo absolvieren.
Angelegt ist das Programm auf zwölf Monate, um nachhaltige Lebensstiländerungen zu erreichen. Es startet mit einer dreimonatigen Intensivphase. Jede Woche bekommt der Patient Aufgaben, Informationsmaterial und Motivationstipps sowie positives Feedback. Er kann auch seine Mahlzeiten fotografieren; die Fotos werden von einer künstlichen Intelligenz analysiert. Der Patient erhält ein automatisches Feedback und muss keine Kalorien zählen. In einem moderierten Forum können sich die Nutzer miteinander austauschen und per Chatfunktion steht ein persönlicher Berater bei technischen Problemen bereit.
Ersten Ergebnissen einer Pilotstudie mit 42 Patienten (Alter 57 ± 7,4 Jahre) zufolge verloren die Probanden im Schnitt etwa 4,4 Kilogramm Körpergewicht nach dreimonatiger Nutzung. Der HbA1c-Wert sank im Schnitt um 1 Prozent. Weitere Studien laufen.
Bereits dauerhaft ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen ist »HelloBetter Diabetes und Depression« der Firma HelloBetter, Hamburg. Wie der Name verrät, richtet sich diese DiGA an Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes, die unter Depressionen leiden. Der zwölfwöchige Onlinekurs soll ihnen helfen, die depressive Symptomatik zu reduzieren. Dazu stehen Texte, Audios und Videos mit Strategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie und passende Übungen zur Verfügung.
Zu den Themen gehören auch die Auswirkungen von Diabetes auf die Partnerschaft, der Umgang mit Grübeleien rund um die Erkrankung, Problemlösetechniken und Information und Motivation zu gesunder Ernährung, Schlafverhalten und Bewegung. Der Patient führt parallel ein Onlinetagebuch und wird immer wieder nach seiner Stimmung und Symptomen gefragt. Zu jeder Kurseinheit soll der Patient innerhalb von 24 Stunden eine schriftliche Rückmeldung eines Psychologen erhalten, der auch in Krisensituationen erreichbar ist.
In einer Studie mit 260 Personen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes und depressiver Stimmung ging die depressive Symptomatik stärker zurück als in einer Vergleichsgruppe. Die Besserung hielt über mehrere Monate nach Programmende an.
Mit dem Slogan »Make Diabetes Suck Less« wirbt die Medizin-App »mySugr« vom gleichnamigen Wiener Unternehmen, das mittlerweile zum Pharmaunternehmen Roche gehört. Ursprünglich von Diabetikern entwickelt, ist sie seit 2012 auf dem Markt. Nach eigenen Angaben hat die App weltweit mehr als vier Millionen Nutzer. Auch deren Diabetestagebuch lässt sich mit verschiedenen Messgeräten verbinden. Die App bietet einen guten Überblick über die wichtigsten Werte, die auch mit dem Arzt geteilt werden können. Ein Bolusrechner hilft bei der Berechnung der Insulindosis. Nach Angaben des Herstellers können mit der Nutzung der App das Hypoglykämierisiko und der geschätzte HbA1c-Wert gesenkt werden.
Die App verfolgt einen Gamification-Ansatz: Wer fleißig einträgt, erhält Punkte. Zudem gibt es verschiedene Herausforderungen, um »das Diabetesmonster in Schach zu halten«. Auf der Website finden sich zusätzliche Informationen rund um die Erkrankung. Es gibt eine kostenlose Basisversion sowie eine kostenpflichtige Pro-Version mit mehr Funktionen. Diese ist für Accu-Check-Messgerät-Nutzer und zum Beispiel für TK-Versicherte kostenlos.
Auch andere Krankenkassen bieten ihren Versicherten mit Diabetes digitale Unterstützung: Zum Beispiel hat die AOK ein interaktives Onlineangebot speziell für Diabetiker und die IKK Classic übernimmt die Kosten für acht- bis zehnwöchige Ernährungskurse online. Bei Adipositas (ob mit oder ohne Diabetes) sind zudem die DiGA »Zanadio« und »Oviva Direkt für Adipositas« verordnungsfähig. Mehr dazu im PZ App-Check Übergewicht.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und die Deutsche Diabetes-Hilfe vergeben gemeinsam mit drei weiteren Fachverbänden seit 2017 das DiaDigital-Siegel für empfehlenswerte Diabetes-Apps. Die Initiative ruht allerdings zurzeit und strukturiert sich neu, da sich der Markt angesichts der Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen und einem allgemeinen Digitalisierungsschub durch die Coronapandemie stark verändere, heißt es auf der Website. Die dort empfohlenen Apps sind zum Großteil nicht mehr erhältlich oder länger nicht aktualisiert worden (Stand 25. August 2022). Die DDG hat sich jedoch zuletzt für die Anwendung digitaler Zusatztherapien ausgesprochen.