Delir-Vorbeugung ist anstrengend, aber wirksam |
Brigitte M. Gensthaler |
12.04.2023 18:00 Uhr |
Vor allem ältere Menschen sind gefährdet, im Krankenhaus oder Pflegeheim ein Delir zu erleiden. Das verschlechtert ihre Prognose deutlich. / Foto: Adobe Stock/LIGHTFIELD STUDIOS
Der frühere Begriff »Durchgangssyndrom« ist verharmlosend und falsch. Der Patient geht keineswegs unbeschadet durch eine akute Verwirrtheit hindurch. »Wer ein Delir erleidet, ist oft langfristig kognitiv beeinträchtigt und verstirbt eher; die Mortalität korreliert mit der Dauer des Delirs«, mahnte Professor Dr. Michael Drey vom LMU Klinikum, Campus München Innenstadt, im März bei einem Symposium der Klinik für Anästhesiologie, LMU Klinikum München.
Weitere Folgen eines Delirs: längere Krankenhausaufenthalte, vermehrte Belastung des Pflegepersonals und schlechteres Behandlungsergebnis. Entwickeln Senioren nach einem geplanten chirurgischen Eingriff ein postoperatives Delir, muss in den Folgejahren – nach einer vorübergehenden Erholung – mit einem rascheren kognitiven Abbau gerechnet werden. Dies zeigte kürzlich eine prospektive Kohortenstudie im Fachblatt »JAMA Internal Medicine« (DOI: 10.1001/jamainternalmed.2023.0144).
Ein Delir ist definiert als akuter Verwirrtheitszustand mit kognitiven Störungen, die akut innerhalb weniger Stunden beginnen und im Tagesverlauf fluktuieren mit einer typischen Verschlechterung am späten Nachmittag und am Abend. Ein Delir könne mehrere Tage bis manchmal Wochen anhalten, so Drey. In Abgrenzung dazu müssten die alltagsbeeinträchtigenden kognitiven Störungen bei einer Demenz definitionsgemäß mindestens sechs Monate anhalten. Man unterscheidet drei Formen:
Die Symptome eines hyperaktiven Delirs sind meist recht auffällig. Dagegen ist es viel schwieriger, ein hypoaktives Delir und ein Delir vom Mischtyp zu erkennen. Im klinischen Alltag könne man Symptome mit etablierten Tests wie der Confusion Assessment Method (CAM) erfassen und einordnen.
Pathophysiologisch gehe man von einer cholinerg-dopaminergen Dysbalance im Gehirn aus, erklärte der Geriater. Neben einem Mangel an Acetylcholin sei Dopamin im Übermaß vorhanden. Dadurch erklärt sich auch der delirogene Effekt anticholinerg wirksamer Medikamente.
Prädisponierende Faktoren sind zum Beispiel höheres Alter, Multimorbidität, kognitive Einschränkungen, Frailty, Depression, Angst und Einsamkeit. Nach heutiger Ansicht müssen exogene Stressoren hinzukommen, damit ein Delir entsteht. Die exogenen Noxen sind sehr vielfältig, zum Beispiel Schlaganfall und Herzinfarkt, Traumata wie Frakturen, Operationen, Infektionen (oft der Harnwege oder Lunge), Exsikkose, Hypo- oder Hyperglykämie, aber auch Medikamente, Schmerzen und Schlafstörungen.
Die Behandlung der Auslösefaktoren, also der exogenen Faktoren, ist vorrangig. Drey nannte beispielhaft die Therapie von Schmerzen, Infektionen und Elektrolytstörungen, eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sowie gute Sauerstoffversorgung.
Ebenso wichtig ist das Absetzen anticholinerger Medikamente. Essenziell sind nicht pharmakologische Maßnahmen, die die Angst mildern, die Orientierung verbessern und Sicherheit geben. Dazu gehören eine engmaschige Betreuung, das Einbeziehen von vertrauten Personen und Angehörigen, aber auch vermeintlich simple Dinge wie Brille und Hörhilfen, Uhr und Kalender, Licht und klare Tagesstruktur.
»Die Medikation spielt in 12 bis 39 Prozent der Delirien eine Rolle oder ist dafür mitverantwortlich«, informierte Apothekerin Carolin Geßele von der Apotheke des LMU Klinikums. Delirogen wirken viele Arzneimittelgruppen, darunter Antidepressiva, Antikonvulsiva, Antipsychotika, Antiparkinsonmittel, Antihistaminika, Opioide, Benzodiazepine und Z-Substanzen. Ursächlich sind die Beeinflussung der zentralen Neurotransmitter Acetylcholin, Dopamin und Serotonin, Absetz- und Reboundeffekte, eine Hyponatriämie und andere Mechanismen.
Die anticholinerge Last sei assoziiert mit einem erhöhten Delirrisiko, informierte die Apothekerin. »Die Reduktion der anticholinergen Medikation verbessert die Delirepisode.« Zur Abschätzung der anticholinergen Last (Anticholinergic Burden, ACB) gebe es mehr als 18 internationale Skalen (Beispiele: www.acbcalc.com; www.anticholinergicscales.es).
»Für eine pharmakologische Delirprävention gibt es keine Evidenz und für die Therapie nur eine geringe«, betonte Geßele. Darauf weist auch die Delir-Leitlinie nachdrücklich hin. Hochpotente Neuroleptika wie Risperidon, Quetiapin und Haloperidol sollten nur bei Halluzinationen und psychotischem Erleben eingesetzt werden. Niederpotente sedierende Stoffe sind Pipamperon und Melperon. »Auf keinen Fall die Dosisreduktion und das Ausschleichen vergessen, denn idealerweise sollte der Patient ohne Antipsychotika aus der Klinik entlassen werden«, mahnte die Apothekerin.
Auf nicht pharmakologische Maßnahmen zur Delirprävention und -behandlung verwies auch Denise Seidenspinner vom Institut für Pflegewissenschaft, München. Sie beschrieb die »Spirale zum Delir« im Krankenhaus. Ältere Patienten, vor allem mit kognitiver Beeinträchtigung, hätten einen erhöhten Begleitungsbedarf, den die Pflegekräfte oft nicht erfüllen können. Dies löse zunehmend Stress und Unruhe bei den Patienten aus, was das Sturz- und Delirrisiko erhöht. »Eine bessere Versorgung heißt: mehr Zeit für den Patienten.«
Better in – better out: Je besser sich Senioren auf einen Klinikaufenthalt vorbereiten, zum Beispiel durch ausgewogene Ernährung, umso besser sind Komplikationen zu vermeiden. / Foto: Adobe Stock/Jürgen Hüls
Es gibt diverse Projekte, die solche Spiralen verhindern wollen. So etwa das von Seidenspinner geleitete Pilotprojekt »gertrud« (altersgerechte proaktive Gesundheitsversorgung) auf drei Stationen im Muskuloskeletalen Universitätszentrum München. Ziel des interdisziplinären Programms sei es, postoperativen Komplikationen proaktiv und patientenindividuell vorzubeugen, erklärte die Pflegeexpertin. Die Maßnahmen reichen von der Indikationsstellung bis zur postoperativen Weiterversorgung zu Hause. Ein interdisziplinäres Geriatrieteam, spezialisierte geriatrische Pflegeteams und geschulte Begleiter setzen dabei die nicht pharmakologischen Präventionsmaßnahmen im Alltag um.
Ein weiterer, inzwischen weit verbreiteter Ansatz ist die Prähabilitation. Der Begriff, eine Wortschöpfung aus »präoperativ« und »Rehabilitation«, bezeichnet die gezielte Vorbereitung auf einen geplanten operativen Eingriff. Ziel ist es, die körperlichen Funktionen und den Leistungszustand des Patienten zu verbessern. Prähabilitation umfasst meist die Bereiche Ernährung (zum Ausgleich einer Mangelernährung), Atem-, Kraft- und Ausdauertraining sowie die psychologische Begleitung. Allerdings ist oft eine mehrwöchige Vorbereitung nötig, damit ältere Menschen gestärkt in eine Operation hineingehen.