Burs: »Der Patient braucht Führung im digitalen Dschungel« |
Die Kammerpräsidentin Cathrin Burs befürchtet, dass Patienten nicht alleine mit der Vielzahl von Gesundheitsinformationen aus dem Internet umgehen können. Apotheker können und wollen jedoch helfen. / Foto: PZ/Christiane Berg
»Patienten brauchen einen Navigator durch die dichtbefahrenen Datenautobahnen und -nebenstraßen des digitalen Gesundheitssystems. Wir Apotheker können und wollen den Menschen helfen, die im Internet angebotenen Informationen selbstbestimmt zu bewerten und zu verstehen«, erklärte Cathrin Burs, die Präsidentin der Apothekerkammer Niedersachsen bei der Vorab-Pressekonferenz zur 3. »Digitalkonferenz Focus Patient« am 22. Oktober 2020.
Wie durch ein Brennglas habe die Coronavirus-Pandemie den Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung im Gesundheitsbereich sichtbar und auch die Schwächen des Systems deutlich gemacht. Denn: Zwischenzeitlich sei offenbar geworden, dass sich Gesundheit zu einem riesigen digitalen Markt entwickelt hat.
Der ratsuchende Patient sehe sich im Dickicht der Plattformen, Start ups, Podcasts und App-Stores mit einer unüberschaubaren Zahl digitaler Angebote konfrontiert. »Was macht das mit den Menschen? Können sie sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich im Gesundheitssystem orientieren? Wir befürchten Nein«, konstatierte Burs.
Studiengemäß hätten 54 Prozent der Bürger Schwierigkeiten, die im Internet angebotenen Gesundheitsinformationen zu beurteilen und richtig einzuschätzen. Betroffen seien insbesondere ältere und chronisch erkrankte Menschen. Nicht zuletzt angesichts des rasanten medizinischen und pharmazeutischen Fachwissens sei es jedoch jedem Einzelnen kaum noch möglich, die jeweilige Sachlage ohne kompetenten professionellen Rat einzuschätzen. Obwohl bekannt sei, dass diese oftmals in die Irre führen, suche dennoch jeder Zweite in Vorbereitung auf einen Arztbesuch im Internet nach der Interpretation seiner Symptome. »Das zeigt, wie weit auch Selbst- und Fremdeinschätzung in dieser Hinsicht auseinanderklaffen«, erklärte Burs.
»Wir wissen als Apotheker den Nutzen der digitalen Technologie zu schätzen und sehen daher auch der elektronischen Patientenakte, dem E-Rezept und dem elektronischen Medikationsplan zuversichtlich entgegen«, so die Kammerpräsidentin. Auch Expertenratschläge via Internet oder Videosprechstunden von Ärzten und Apothekern könnten einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten. Die intensive und fachkompetente »face-to-face«-Begleitung und -Betreuung durch Apotheker und Ärzte dürfe dabei jedoch keinesfalls zu kurz kommen: »Es gibt keine Alternative zur persönlichen Begegnung mit dem Patienten, um festzustellen, was er wirklich braucht«.
»Wir leben in einer Welt des rasanten digitalen und somit gesellschaftlichen Wandels, der durch die Pandemie noch verstärkt worden ist«, betonte der Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar. »Diese Pandemie ist die erste Krise, die der Mensch in Zeiten der sozialen Netzwerke erlebt«, betonte er.
Die Digitalisierung biete hier Chancen, so der Physiker mit Verweis unter anderem auf die Corona-Warn-App, die der Unterstützung im Kampf gegen Covid 19 dient. Big Data berge jedoch auch große Risiken, warnte er mit Blick auf die steigende Zahl von Fake News und somit Zunahme von Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung durch eine »komplett andere Kommunikationsgrammatik«.
»Bekannt ist, dass sich manipulativ verbreitete falsche News sechsmal schneller als korrekte Nachrichten verbreiten. Fake News haben völlig neue Dimensionen erreicht und können somit Kollateralschäden verursachen, die wir nicht unterschätzen sollten«, gab er zu bedenken.
Insbesondere die Komplett-Digitalisierung und wachsende Algorithmisierung der Medizin und des Gesundheitswesens bringe neue Unsicherheiten und Bedrohungen mit sich, da weltweit operierende mächtige digitale Player in den Markt drängen, die nicht auf Solidarisierung, sondern auf Ökonomisierung setzen. Hier wünsche er sich mehr Bewusstsein, Reflexions-Fähigkeit, Schnelligkeit, Sensibilität und Kompetenz seitens der Gesundheitspolitik, so Yogeshwar. »Es sind noch grundlegende Hausaufgaben zu machen«, konstatierte er.
Bei der Bewältigung von Krankheit oder dem Erhalt von Gesundheit seien non-digitale, aber essentielle Faktoren wie Zeit, Einfühlungsvermögen, persönliche Zuwendung, menschliche Nähe und kommunikative Fähigkeiten wichtiger denn je. »Gerade angesichts der Digitalisierung wächst die Bedeutung zuverlässiger und vertrauenswürdiger Orte, wo wir in unserer Ganzheit gesehen werden und wir uns direkt und Auge in Auge austauschen können, um auf Basis valider Informationen agieren zu können«, sagte er.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.