BTK-Hemmer gegen Leukämie |
Brigitte M. Gensthaler |
08.01.2021 07:00 Uhr |
Das Risiko, an einer chronisch lymphatischen Leukämie (CLL) zu erkranken, nimmt mit dem Alter zu. Entdeckt wird die CLL meist in einem frühen Stadium, oft bei einem Routine-Gesundheitscheck oder einer Blutuntersuchung. / Foto: imago/Jochen Tack
Das Enzym Bruton-Tyrosinkinase (BTK) wird vor allem auf B-Zellen exprimiert und spielt eine wichtige Rolle bei deren Reifung und Überleben. Inhibitoren dieser Kinase können überschießendes Zellwachstum verhindern und werden daher wie Ibrutinib (Imbruvica®) in der Onkologie bei chronischer lymphatischer Leukämie (CLL), Mantelzelllymphom und Morbus Waldenström eingesetzt. Zudem werden Wirkstoffe wie Fenebrutinib und Evobrutinib bei Multipler Sklerose erforscht.
Das peroral bioverfügbare Acalabrutinib (Calquence® 100 mg Hartkapseln, Astra-Zeneca) ist als Monotherapie oder in Kombination mit dem CD20-Antikörper Obinutuzumab (Gazyvaro®) zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit nicht vorbehandelter CLL zugelassen. Als Monotherapie darf es eingesetzt werden bei CLL-Patienten, die mindestens eine Vorbehandlung erhalten haben.
Die empfohlene Dosierung beträgt zweimal täglich eine Kapsel (Tagesgesamtdosis 200 mg Acalabrutinib) im Abstand von etwa zwölf Stunden. Der Patient soll die Kapsel jeden Tag etwa zur gleichen Zeit mit Wasser, aber unabhängig von den Mahlzeiten einnehmen. Bei leichter oder mäßiger Leber- oder Niereninsuffizienz ist keine Dosisanpassung nötig. Die Behandlung wird bis zur Krankheitsprogression oder inakzeptablen Nebenwirkungen fortgesetzt. Bei schweren Thrombozytopenien oder anderen Toxizitäten wird die Einnahme unterbrochen und bei Besserung, gegebenenfalls mit reduzierter Dosis, fortgesetzt oder beendet.
Acalabrutinib ist ein selektiver Inhibitor der Bruton-Tyrosinkinase. Dieses Enzym ist ein Signalmolekül im Signalweg des B-Zell-Antigen- und des Zytokin-Rezeptors. In B-Zellen führt die BTK-Signalübertragung zur Proliferation und ist für die Adhäsion, Migration und Chemotaxis der Zellen erforderlich. Acalabrutinib und sein aktiver Metabolit ACP-5862 binden kovalent im aktiven Zentrum der BTK, was diese irreversibel inaktiviert. In der Folge wird das Wachstum von malignen B-Zellen und damit das Fortschreiten der Leukämie gebremst.
Dass das neue Medikament das progressionsfreie Überleben verlängern kann, zeigten zwei randomisierte, multizentrische unverblindete Phase-III-Studien. In der Studie ELEVATE-TN erhielten 535 Patienten mit noch unbehandelter CLL Acalabrutinib (zweimal täglich 100 mg) mit oder ohne Obinutuzumab (maximal sechs Behandlungszyklen) oder den Chemotherapie-basierten Standard Chlorambucil plus Obinutuzumab. Nach etwa 28 Monaten waren 8 Prozent der Patienten im Acalabrutinib-Kombinationsarm und 15 Prozent in der Monotherapie-Gruppe gestorben oder es hatte sich ihre Krebserkrankung verschlimmert, verglichen mit 53 Prozent der Patienten unter Obinutuzumab plus Chlorambucil. Die Risikoreduktion war statistisch signifikant.
In der Studie ASCEND wurden 310 Patienten mit rezidivierter oder refraktärer CLL aufgenommen, die mindestens eine Vorbehandlung erhalten hatten. Sie erhielten entweder den BTK-Inhibitor als Monotherapie oder den CD20-Antikörper Rituximab (MabThera®) plus Idelalisib, einen Hemmstoff einer Phosphatidylinositol-3-Kinase, die bei B-Zell-Malignomen hyperaktiv ist, oder plus Bendamustin, je nach Wahl des Prüfarztes. Nach etwa 16 Monaten waren 17 Prozent der Patienten, die den BTK-Inhibitor erhielten, gestorben oder hatten eine Krankheitsprogression, verglichen mit 44 Prozent der Patienten mit einer Rituximab-Kombination.
Die häufigsten Nebenwirkungen, die mehr als 20 Prozent der Patienten unter einer Monotherapie erlitten, waren Infektionen, Kopfschmerzen, Diarrhö, Hämatome und muskuloskelettale Schmerzen sowie Übelkeit, Fatigue, Husten und Hautausschlag. Bei Kombination mit anderen Krebsmedikamenten traten ebenfalls sehr häufig Gelenkschmerzen, Schwindel und Verstopfung auf. Die häufigsten Nebenwirkungen von Grad 3 und 4 waren Infektionen, Leukopenie, Neutropenie und Anämie.
Auf pharmakokinetischer Ebene gibt es viele Wechselwirkungen, da Acalabrutinib und sein aktiver Metabolit hauptsächlich über das Cytochrom-P450-Enzym 3A4 (CYP3A4) metabolisiert werden. Zudem sind beide Stoffe Substrate von P-Glykoprotein (P-gp) und Breast Cancer Resistance Protein (BCRP).
Die gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A-/P-gp-Inhibitoren wie Ketoconazol, anderen Azolen oder Clarithromycin erhöht die Plasmaspiegel von Acalabrutinib und sollte vermieden werden. Falls diese Wirkstoffe kurzzeitig nötig sind, sollte das Leukämie-Mittel pausiert werden. Umgekehrt verringern gleichzeitig gegebene starke CYP3A-Induktoren wie Phenytoin, Rifampicin oder Carbamazepin die Plasmaspiegel von Acalabrutinib deutlich und sind daher zu vermeiden. Dies gilt auch für Johanniskraut, das die Plasmakonzentration möglicherweise unvorhersehbar senken kann.
Da die Löslichkeit von Acalabrutinib bei steigendem pH-Wert abnimmt, sinkt auch die Plasmakonzentration bei gleichzeitiger Anwendung von Antazida oder Protonenpumpenhemmern. Braucht der Patient ein Magensäure-reduzierendes Arzneimittel, sollten Antazida wie Calciumcarbonat oder H2-Rezeptor-Antagonisten wie Ranitidin oder Famotidin erwogen und der Patient auf die zeitversetzte Einnahme hingewiesen werden. PPI sind zu meiden.
Frauen im gebärfähigen Alter sollten während der Therapie nicht schwanger werden beziehungsweise der BTK-Hemmer sollte während der Schwangerschaft nicht angewendet werden. Während der Behandlung und zwei Tage nach Einnahme der letzten Dosis sollten Frauen nicht stillen.
Bei der chronisch-lymphatischen Leukämie (CLL) handelt es sich um die häufigste Leukämieform bei Erwachsenen in Mitteleuropa. Der Wirkmechanismus von Acalabrutinib ist nicht neu und bereits von Ibrutinib bekannt. Auch dieser Brutonkinase-Inhibitor wird seit Längerem bei CLL eingesetzt, hat im Vergleich zu Acalabrutinib aber ein breiteres Anwendungsgebiet. Seine Wirksamkeit konnte der neue Arzneistoff zweifelsohne in Studien unter Beweis stellen, allerdings ist ein Therapiefortschritt gegenüber Ibrutinib bisher nicht nachgewiesen. Ein direkter Vergleich mit dem älteren Kinasehemmer ist die Studie NCT02477696, die bei vorbehandelten CLL-Patienten die beiden Brutonkinase-Hemmer miteinander vergleicht. Gibt es Wirksamkeitsunterschiede? Gibt es relevante Unterschiede im Sicherheitsprofil, beispielsweise hinsichtlich Blutungen und Vorhofflimmern? Noch sind diese Fragen nicht beantwortet. Vorerst ist Acalabrutinib als Analogpräparat einzuordnen. Mit Spannung darf man ferner weiteren Studiendaten entgegensehen, auch aus Indikationsgebieten, in denen der Wirkstoff andernorts bereits zugelassen ist.
Sven Siebenand, Chefredakteur