Boostern oder nicht? |
Theo Dingermann |
20.09.2022 12:30 Uhr |
Die Covid-19-Impfung immer wieder aufzufrischen, ist bislang unerlässlich, aber kein Zukunftsmodell. / Foto: Adobe Stock/Davide Bonaldo
In einem Beitrag auf der Online-Plattform »Substack« widmet sich der US-amerikanische Genetiker und Kardiologe, Professor Dr. Eric Topol vom Scripps Translational Science Institute in La Jolla, der aktuellen Frage, wie die neuen Covid-19-Impfstoffe einzuschätzen sind. Topol unterstreicht die Bedeutung der Auffrischimpfungen, da es zahlreiche Belege dafür gebe, dass eine dritte oder vierte Impfung, also eine erste oder zweite Auffrischung, wichtig ist. Dies gelte besonders für Menschen über 50 Jahren; es profitierten aber auch alle über zwölf Jahren von den Auffrischimpfungen. Dennoch fordert Topol den Blick nach vorne, statt auf einem Status quo zu verharren.
Über Beweise für den Nutzen von Auffrischungsimpfungen wurde bereits im Oktober 2021 in der Presse berichtet, so Topol. Im Mai 2022 wurden dann die entsprechenden Daten der einzigen großen randomisierten Studie aus Israel zu einer Auffrischungsimpfung mit einem der mRNA-Impfstoffe im »New England Journal of Medicine« (NEJM) publiziert. An dieser Studie mit dem Impfstoff Comirnaty® von Biontech/Pfizer hatten zwischen dem 1. Juli und dem 10. August 2021 mehr als 10.000 Probanden teilgenommen. Danach bewirkte die Auffrischimpfung eine 95-prozentige Verringerung der symptomatischen Infektionen in allen Altersgruppen während der Delta-Welle, und dieser Schutz verblieb mindestens vier Monate lang auf diesem Niveau, das dem entsprach, das man aus den Zulassungsstudien des Impfstoffs kannte.
Diese Daten wurden wiederholt bestätigt. Zudem wurde gezeigt, dass Patienten über 50 Jahren zusätzlich auch noch einmal von einer vierten Impfdosis profitierten – sowohl hinsichtlich eines deutlich verringerten Sterberisikos als auch hinsichtlich der Notwendigkeit für eine stationäre Behandlung. Auch zeigte sich, dass das Risiko, an Long Covid zu erkranken, durch Auffrischungsimpfungen um bis zu 50 Prozent verringert wird.
Nachdem jedoch Omikron mit seinen Subvarianten das Infektionsgeschehen in den entwickelten Ländern zu dominieren begannen, sank der Schutz vor Infektionen durch Impfungen und Auffrischungsimpfungen generell auf etwa 30 bis 40 Prozent der ursprünglichen Werte. Diese Enttäuschung führte zu einer merklichen Ernüchterung und einer nachlassenden Begeisterung für Auffrischungsimpfungen, ganz besonders auch in den USA, so Topol. Hinzu kommt, dass viele bei jeder Impfung die deutliche Reaktogenität der mRNA-Impfstoffe als äußerst unangenehm wahrnehmen.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass selbst die neuen bivalenten, an die BA.1- beziehungsweise BA.4/BA.5-Varianten angepassten Booster-Impfstoffe nicht von jedem enthusiastisch aufgenommen werden.
Auch unter Experten herrscht keineswegs eine einheitliche Meinung. Dazu tragen auch die Umstände der Zulassung der Impfstoffe bei. Diese fußt im Fall des bivalenten BA.4/BA.5-adaptierten Auffrischungsimpfstoffs auf drei Datensätzen: einem zum bivalenten BA.1-Impfstoff, einem zum bivalenten Impfstoff gegen die Beta-Variante, der jedoch nicht bis zur Zulassung entwickelt wurde, und einem zu BA.4/BA.5-Impfstoffstudien an Mäusen.
Die Daten zum bivalenten Moderna-BA.1-Booster wurden erst kürzlich publiziert. Sie zeigen in etwa eine Verdopplung der Titer an neutralisierenden Antikörpern gegen BA.1 im Vergleich zu einem Booster mit dem ursprünglichen Impfstoff. Das ist gut, aber nicht berauschend, und es bleibt die Frage offen, ob der bivalente BA.4/BA.5-Impfstoff ähnlich gut abschneiden wird.
Sowohl die klinischen Daten aus dieser Studie als auch die Daten, die an Mäusen erhoben wurden, lassen einen beunruhigenden Trend erkennen. Danach werden viel weniger effektive Antikörper gegen Omikron induziert als gegen das Wildtyp-Virus. Das gilt sowohl für den an BA.1 angepassten bivalenten Impfstoff der Firmen Biontech/Pfizer als auch für den entsprechenden Impfstoff der Firma Moderna.
Hierfür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder die Omikron-Varianten sind weniger immunogen. Oder es findet bei der Induktion eines Immunschutzes gegen SARS-CoV-2 tatsächlich eine relevante immunologische Prägung statt, wie dies seit einiger Zeit intensiv diskutiert wird. Darunter versteht man die Eigenschaft des Immunsystems, auf ein neues Antigen nur mäßig zu reagieren, weil sich durch eine Erstexposition mit einem SARS-CoV-2-Antigen bereits eine dominante Immunantwort etabliert hat.
Vielleicht ist die mäßige Immuninduktion durch die angepassten Impfstoffe auch eine Kombination aus Immunflucht der Omikron-Varianten und einer immunologischen Prägung. Dass tatsächlich die Zahl der neutralisierenden Antikörper nach einer Booster-Impfung mit dem angepassten Impfstoff hinter den erwarteten Werten zurückbleibt, ist in jedem Fall enttäuschend, zumal der Titer an neutralisierenden Antikörpern als Surrogat für den Schutz vor schweren Krankheitsverläufen gilt, so Topols Resümee.
Zudem werden die Bedenken hinsichtlich der Relevanz einer immunologischen Prägung auch noch aktuell durch einen Preprint einer chinesischen Arbeitsgruppe um Professor Dr. Yunlong Cao vom Biomedical Pioneering Innovation Center (BIOPIC) an der Universität Peking bekräftigt. Diese Autoren fanden bei BA.5-Durchbruchinfektionen eine signifikante Verringerung der Vielfalt neutralisierender Antikörper-Epitope und eine Zunahme nicht neutralisierender Antikörper. Ähnlich verhielt es sich mit BA.4/BA.5-spezifischen Impfstoff-Boostern.
Mit Spannung werden daher die klinischen Daten erwartet, die nach einer Booster-Impfung mit einem an BA.4/BA.5 angepassten Impfstoff erhalten werden.
Auffrischungsimpfungen bieten einen eindeutigen Schutz vor schweren Covid-19-Verläufen und tragen wahrscheinlich zumindest in gewissem Maße zur Verringerung des Risikos für Long Covid bei. Zudem bieten sie mindestens in den ersten zwei Monaten nach der Impfung einen gewissen Infektionsschutz. Man wisse noch nicht, betont Topol in seinem Beitrag, ob der bivalente BA.4/BA.5-Booster besser sei als der BA.1-Booster oder gar ein Booster mit dem ursprünglichen Impfstoff. Angesichts der Entwicklung des Virus in Richtung Omikron und seiner Untervarianten scheint es unwahrscheinlich, dass der neue Impfstoff mittelfristig einen großen oder bedeutenden Einfluss auf die Verringerung der Infektion haben wird. Das deuten alle bisher vorliegende Daten an.
Andererseits gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Schleimhaut-IgA-Antikörper erforderlich sein werden, um einigermaßen effektiv vor Infektionen zu schützen. Nach einer aktuellen NEJM-Publikation verringerte sich das Risiko für Durchbruchinfektionen um 60 bis 80 Prozent in Abhängigkeit von Schleimhaut-IgA-Antikörpern. In der zitierten Studie wurden diese IgA-Antikörper durch eine systemische Immunisierung induziert. Deutlich effektiver sollten sich solche Antikörper durch nasale oder orale Impfstoffe induzieren lassen.
Noch ist die Nachhaltigkeit der Schutzwirkung durch solche Antikörper nicht bekannt. Aber es wäre viel einfacher, ein Nasenspray wiederholt zu verabreichen – wobei zudem mit einer deutlich reduzierten Reaktogenität gerechnet wird –, als immer wieder intramuskulär zu impfen. Sicherlich sind die ermutigenden Daten des kürzlich zugelassenen inhalativen Impfstoffs der chinesischen Firma Cansino gegen Omikron ein Hinweis darauf, dass das Konzept solide ist.
So gilt es nach Meinung Topols, die richtige Frage in Richtung Zukunft zu stellen. Ein ständiges Auffrischen des Impfschutzes nach jeweils vier bis sechs Monaten ist jedenfalls keine praktikable Option. Zudem bereiten neue Varianten, darunter BA.2.75.2, Sorgen. Dies machen auch Daten eines neuen Preprints aus dem Karolinska-Institut deutlich. Hier zeigen die Forschenden, wie diese Variante noch einmal effektiver dem Immunsystem entkommt. Dies wird durch Daten aus der Gruppe um Cao bestätigt. In Anbetracht dieser Beobachtungen wird die derzeitige Strategie mit angepassten Impfstoffen wahrscheinlich nicht helfen.
Es sei an der Zeit, so Topol, die Jagd auf SARS-CoV-2-Varianten einzustellen und eine aggressive Vorwärtsstrategie zu entwickeln. Man habe es mit einem Dreiklang zu tun: mehr Immunflucht, mehr Beweise für eine Prägung und die Unvermeidlichkeit neuer Varianten, die bereits den Grundstein für ihre gefährliche Ausbreitung gelegt haben.
Die Zeit, das Immunsystem mit immer wieder angepassten Impfstoffen aufzufrischen, wird seiner Ansicht nach zu Ende gehen. Diese Impfstoffe haben Beeindruckendes geleistet. Sie waren lebensrettend, krankheitsvermeidend und äußerst hilfreich, um gefährliche Phasen der Weiterentwicklung des Coronavirus zu überbrücken. Aber jetzt sind neue Strategien gefragt, mit denen es hoffentlich gelingt, dauerhafte, verträglichere und wirksamere Lösungen zu finden. »Sie liegen in unserer Reichweite«, so Topol. Gemeint sind die nasalen Coronaimpfstoffe.
Allerdings bleibe zum jetzigen Zeitpunkt nur die Option, für einen zusätzlichen Schutz durch die neuen angepassten Impfstoffe zu sorgen, also sich boostern zu lassen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.