Betreuung mit sozialer Empathie |
Kerstin A. Gräfe |
05.08.2024 08:00 Uhr |
Die Betreuung von HIV-Patienten geht oft über das reine Medikationsmanagement hinaus und bedarf besonderen Einfühlungsvermögens. / Foto: Getty Images/Westend61
Aus der früher tödlich verlaufenden Infektion mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) ist inzwischen eine gut zu behandelnde, chronische Erkrankung geworden. Dank moderner Therapien können die Betroffenen ein nahezu normales Leben führen; ihre Lebenserwartung unterscheidet sich nicht wesentlich von der HIV-negativer Personen.
HIV-Patienten müssen dafür allerdings ihr Leben lang hoch wirksame Medikamente einnehmen. Schwerpunkt-Apotheken haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Patienten zu betreuen. Die meisten von ihnen sind Mitglieder der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV und Hepatitis kompetenter Apotheken (DAH²KA).
Das Patientenmanagement gehe oft über das normale Medikationsmanagement hinaus und bedürfe einer besonderen sozialen Empathie, schreibt Apotheker Ingo Beer, Marien-Apotheke München und Vorstandsmitglied der DAH²KA, in der aktuellen Ausgabe der DPhG-Mitgliederzeitschrift »Pharmakon«. In seinem Beitrag »Patienten mit HIV in der Apotheke« zeigt er auf, welche Aspekte bei einer nachhaltigen pharmazeutischen Betreuung zu berücksichtigen sind.
»Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. / Foto: Avoxa
Einen Schwerpunkt bildet die Aufklärung über das Nebenwirkungspotenzial einer antiretroviralen Therapie (ART). Das A und O: Der Patient muss im Vorfeld umfassend und verständlich darüber aufgeklärt werden, darf dabei aber keinesfalls verunsichert werden.
Die meisten Nebenwirkungen treten nur zu Beginn der Behandlung auf. Zu typischen Kurzzeitnebenwirkungen unter Protease-Inhibitoren zählen gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Diarrhö und Erbrechen. Abhilfe schaffen kann hier häufig schon ein anderer Einnahmezeitpunkt, nämlich zu einer Mahlzeit. Zudem kann das Apothekenteam Arzneimittel zur Selbstmedikation wie Flohsamenschalen oder Loperamid empfehlen. In manchen Fällen hilft auch eine Ernährungsumstellung auf eine pektinreiche, gerbstoffhaltige Kost.
Als unerwünschte Arzneimittelwirkungen der nicht nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTI) treten vor allem Schwindel, Benommenheit und Schläfrigkeit auf. Hier kann dazu geraten werden, Efavirenz-haltige Präparate nüchtern vor dem Schlafengehen einzunehmen, sodass die ZNS-Nebenwirkungen »verschlafen« werden. Bei Einschlafproblemen können Phytopharmaka mit Baldrian oder Lavendel sowie chemische Wirkstoffe wie Doxylaminsuccinat versucht werden.
Eine bekannte Nebenwirkung der nukleosidischen Transkriptase-Hemmer (NRTI) sind Hautveränderungen. Hilfreich sind hautberuhigende, rückfettende Cremes oder leicht cortisonhaltige Salben. Bilden sich hingegen Blasen oder treten großflächige Hautausschläge auf, sollte der Patient unbedingt an den Arzt verwiesen werden, um eine potenzielle Hypersensitivitätsreaktion (auf Abacavir) abzuklären.
Auch Langzeitnebenwirkungen einer ART wie eine Fettumverteilung, Störungen des Lipid- und Glucosestoffwechsels sowie eine Verringerung der Knochendichte lassen sich inzwischen gut managen. Sie gehören jedoch in die Hände eines Arztes; die Apotheke kann lediglich unterstützend wirken.
Die antiretrovirale Therapie birgt zudem ein hohes Potenzial für Interaktionen. Zum einen kommen stets mehrere Wirkstoffe zum Einsatz, zum anderen werden die meisten Protease-Inhibitoren und Integrase-Hemmer mit Ritonavir oder Cobicistat geboostert. Letztere hemmen das Cytochrom-P450-System, vor allem Isoenzym CYP3A4, und bewirken dadurch, dass der jeweilige HIV-Wirkstoff langsamer abgebaut wird und weniger häufig eingenommen werden muss. Da über diesen Abbauweg auch zahlreiche Arzneistoffe verstoffwechselt werden, resultiert ein hohes Interaktionspotenzial (Tabelle). Die Problematik wird angesichts der immer höheren Lebenserwartung der Patienten und der damit verbundenen Komorbiditäten an Relevanz noch zunehmen.
Substanz(gruppe) | Beispiele |
---|---|
Analgetika | Piroxicam, Opioide |
Antiarrhythmika | Amiodaron |
Antibiotika | Rifabutin, Rifampicin, Makrolid-Antibiotika |
Hypnotika, Sedativa | Midazolam, Triazolam |
Cholesterol-Senker | Lovastatin, Simvastatin |
PDE-Hemmer | Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil |
Pflanzliche Arzneistoffe | Johanniskraut |
Cortisone | Budesonid, Mometason, Fluticason (Inhalate), Triamcinolon, Dexamethason, Prednisolon, Betamethason (oral u. Inhalate) |
Medizinische Kohle | |
Flohsamenschalen | |
Grapefruitsaft |
Auch abseits des Cytochrom-P450-Systems können sich Wirkstoffe gegenseitig beeinflussen. So können Metallbestandteile von Antazida mit Integrase-Hemmern Komplexe bilden und deren Resorption verhindern. Antazida sollten daher entweder zwei Stunden vor der ART oder sechs Stunden danach eingenommen werden. Gleiches gilt für Nahrungsergänzungsmittel, die Calcium, Eisen, Magnesium oder Aluminium enthalten, etwa Multivitaminpräparate oder angereicherte Proteinshakes.
Hilfreich beim Interaktionscheck sind neben der Apothekensoftware Datenbanken wie die der Universität Liverpool (www.hiv-druginteractions.org) und Deutschen Aidshilfe (www.hiv-wechselwirkungen.de).
Prinzipiell gelten für HIV-Infizierte die gleichen Ernährungsempfehlungen wie für alle Menschen. Eine ausgewogene, eiweißhaltige, mit Mineralstoffen (Cave: Einnahmeabstand einhalten) und Vitaminen abgestimmte Ernährung kann die Aufnahme und Verträglichkeit einer ART durchweg verbessern. Bei bestimmten Arzneistoffen gilt aber besondere Vorsicht: Rilpivirin beispielsweise sollte mit mindestens 500 kcal Nahrung aufgenommen werden, da sich ansonsten die Resorption des Wirkstoffes um rund 40 Prozent verringern kann. Efavirenz hingegen sollte am besten nüchtern und nicht mit einer fetthaltigen Mahlzeit eingenommen werden, da sich der Wirkstoffspiegel sonst stark verringert.
Lebenslange Therapien durchzuhalten, scheitert oftmals an profanen Dingen. Der Patient hat zum Beispiel vergessen, das Rezept ausstellen zu lassen oder hat es verlegt. Die Apotheke sollte für solche Fälle mit den Verordnern standardisierte Vorgehensweisen abgesprochen haben. So gerüstet, ist sie für Patienten und Ärzte ein ernstgenommener Ansprechpartner.