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OTC-Gipfel

Besser für sich selbst sorgen

Beim OTC-Gipfel in Nordrhein diskutierten Experten, wie sich Apotheken als erste Anlaufstellen in der Gesundheitsversorgung im Bereich Selbstmedikation und Selfcare aufstellen könnten.
Barbara Döring
08.11.2024  16:20 Uhr

Die Kongressveranstaltung, eine Initiative des Apothekerverbands Nordrhein zur Bedeutung der Selbstmedikation im Gesundheitswesen, fand in diesem Jahr erstmals mit dem Schwerpunkt Selfcare statt. Das Thema werde in Anbetracht des überlasteten Gesundheitssystems an Bedeutung gewinnen.

Zwar seinen nun Pläne des noch amtierenden Bundesgesundheitsministers wie Apotheken ohne Apotheker vom Tisch, was zunächst zufriedenstellend sei, jedoch würde eine verbesserte Honorierung der Apotheker jetzt nicht so schnell angegangen werden, obwohl es dringend nötig wäre, betonte Thomas Preis, Vorsitzender des Vorstandes des Apothekerverbands Nordrhein, einen Tag nach Platzen der Ampel-Koalition.

Es bestehe die Gefahr, dass bis zu den angekündigten Neuwahlen und bis zur Etablierung einer neuen Regierung wertvolle Zeit verloren gehe. Dem Land drohten Monate des politischen Stillstands. Reformen und Gesetzesvorhaben für eine verbesserte Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in der Apotheke würden der Diskontinuität der bisherigen Regierung zum Opfer zu fallen – darunter das erweiterte Impfen in Apotheken oder das Gesunde-Herz-Gesetz, das den Apotheken zentrale Aufgaben bei der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen übertragen sollte.

Preis warnte vor der noch nie dagewesenen Schließungswelle von Apotheken in Deutschland, die sich im Vergleich zum letzten Jahr noch einmal verschärft habe. In den ersten neun Monaten dieses Jahres haben nach Angaben der ABDA bereits 384 Apotheken geschlossen. Mit nur noch 17.187 Apotheken in Deutschland sei ein neuer historischer Tiefstand erreicht.

Die Gefahr einer zukünftigen Unterversorgung sei definitiv nicht wegzudiskutieren, räumte Preis ein. Apotheker wollten jedoch mehr Verantwortung bei der Gesundheitsversorgung der Menschen über ihre Kernaufgabe der Arzneimittelversorgung hinaus übernehmen und auch aktiv mitgestalten, betonte der Verbandsvorsitzende. »Wir sehen die Apotheken vor Ort ganz klar zukünftig immer mehr als ersten und zentralen Gesundheitsversorgung vor Ort für die Menschen in unserem Land.«

Jede zweite abgegebene Packung ist ein OTC

Bereits heute würden Apotheken mit der Beratung zur Selbsttherapie bei Abgabe von OTC-Arzneimitteln einen zentralen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten. Jedes zweite Medikament aus der Apotheke sei ein OTC-Arzneimittel, das ohne vorherigen Arztbesuch abgegeben wird. Apotheker seien in der Regel die einzigen Heilberufler, die Patienten dazu beraten.

Die Beratung geht dabei über die reine Abgabe des Arzneimittels hinaus und sei in den meisten Fällen eine konkrete Gesundheits- und Krankheitsberatung. Somit stärken Apotheker die Gesundheitskompetenz der Menschen, ohne die Selfcare nicht sicher stattfinden könnte. Auf diese Weise sei es möglich, das Gesundheitssystem spürbar und sicher zu entlasten.

Apotheker als Teil des Arztpraxisteams

Impulse, wie die Rolle der Apotheke im Bereich Selfcare aussehen könnte, gab Professor Dr. Beate Müller. Die Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universitätsklinik Köln, Beisitzerin der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und neuberufenes Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), beschäftigt sich seit langem mit der Sicherheit beim Einsatz von Medikamenten.

Sie betonte, dass es beim Thema Selfcare sehr unterschiedliche Positionen in der Ärzteschaft gebe und sie in ihrem Vortrag ihre persönliche Meinung vertrete. Angesichts der zunehmenden Zahl chronisch kranker Patienten und einem immer größer werdenden bürokratischen Aufwand für die Ärzteschaft stelle sich die Frage, wie die Arbeit künftig zu bewältigen sei.

Viele Ärzte, die sich niederlassen, sagen heute bereits, den Aufgaben nicht gerecht werden zu können. Aus Müllers Sicht müsste es künftig interprofessionelle Teampraxen mit Ärzten, Apothekern und studiertem Pflegepersonal geben, die auf Augenhöhe miteinander arbeiten.

Hitze als neues Schwerpunkt-Beratungsthema

Als Beispiel für Selfcare-Themen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen, nannte sie Gesundheitsaspekte, die sich durch den Klimawandel ergeben. Was Patienten selbst, auch in Kooperation mit Apotheken hier tun können, ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Dabei geht es etwa um die Anpassung der Medikation in Hitzeperioden. Hitze führe alljährlich im Sommer zur Übersterblichkeit, die nicht in diesem Umfang sein müsste.

In einem Flyer mit elf Tipps bei Hitze empfehle die Stadt Köln unter anderem, mit dem Arzt über Medikamente zu sprechen. Das Problem sei jedoch, dass bei einem Temperaturanstieg in der Regel so schnell keine Arzttermine verfügbar sind. Deshalb wäre es aus Sicht von Müller gut, wenn Patienten so gesundheitskompetent wären, dass sie Anpassungen selbst hinbekommen.

Die Tatsache, dass etwa bei Hitze der Wirkstoff aus einem Fentanyl-Pflaster schneller anfluten kann, im Sommer der Blutdruck morgens oft niedriger ist als im Winter und die morgendliche Tablette unter Umständen eingespart werden kann oder die Dosierung von Diuretika anzupassen ist, müsste den Patienten mit auf den Weg gegeben werden.

Auch bei Anticholinergika, die zum Beispiel die Schweißproduktion hemmen und die Vigilanz verschlechtern können, gebe es Beratungsbedarf. Noch gebe es dazu keine klaren Empfehlungen, doch Müller arbeitet aktuell an der sogenannten Calor-Liste zur evidenzbasierten, hitzesensiblen Medikationsanpassung, die auch in der Apotheke genutzt werden könne.

Was man Patienten auf jeden Fall gut in der Apotheke mitgeben könnte, sei ein Trinkprotokoll zu führen und sich täglich zu wiegen, oder auch häufigere Blutdruckmessungen oder Blutzuckermessungen durchzuführen. »Die Apotheke ist für mich ein sehr wichtiger Player, weil ich glaube, dass wir nicht die Kapazität in der Praxis haben, um alle Patienten selber zu beraten«, sagte Müller.

OTC-Switches als Chance für die Apotheken

Eine große Chance im Bereich Selfcare sieht Michael Hennrich, Geschäftsführer Politik bei Pharma Deutschland, für Apotheken. Bislang hätten in der Politik Selbstmedikation und Selfcare keine große Rolle gespielt, doch er sei sicher, dass hier spannende Zeiten kommen.

Krankheiten mit geringem Risiko, die mit weniger finanziellem Aufwand verbunden seien, müssten wieder stärker in die Eigenverantwortung der Versicherten gegeben werden. OTC-Switches würden hier für Apotheker eine Chance bieten, sich neu zu positionieren. Als mögliche Beispiele nannte er die  PDE-5-Hemmer bei erektiler Dysfunktion oder die Akutbehandlung mit Antibiotika bei banalen Infekten.

Apotheker sollten sich immer wieder vor Augen führen, was sie alles können, betonte Hennrich. Nicht nur der niederschwellige Zugang zur Versorgung sei zu betonen. Es sei vor allem die pharmakologische Kompetenz, das Bewusstsein für Gesundheit, der dauerhafte Kontakt zu den Patienten und die schnelle Reaktion, die sich gerade während der Corona-Pandemie bei der Herstellung von Desinfektionsmittel gezeigt hätte. OTC-Switches könnten zudem vereinfacht werden, wenn nicht für einen Wirkstoff, sondern für Präparate die Änderung des Zulassungsstatus’ beantragt werden könnte.

Vorbild England: »Pharmacy first«

In einem weiteren Impulsreferat zeigte der Gesundheitsökonom und Volkswirt Professor Uwe May auf, wie Apotheken über Selbstmedikation und Selfcare die Patientenversorgung verbessern und Kosten senken könnten. Er erklärte, wie in England das Konzept »Pharmacy first«, bei dem Apotheken als erste Ansprechpartner im Gesundheitssystem fungieren, funktioniert.

Der National Health Service (NHS) motiviert mit einem Fernsehspot Menschen, bei Beschwerden zunächst eine Apotheke aufzusuchen und übernimmt dafür die Beratungskosten der Apotheker, da es erkannt hätte, dass sich so Kosten einsparen lassen. Und in der Schweiz sei es selbstverständlich, dass Patienten für Beratung und Dienstleistungen in der Apotheke bezahlen.

Am Beispiel Halsschmerzen zeigte May auf, wie durch einfache Abfrage der Symptome Arztbesuche, Antibiotika und Kosten leicht einzusparen wären. Durch jeden Euro, der für OTC-Produkte ausgegeben würde, spare das deutsche Gesundheitssystem knapp 14 Euro; wenn sich fünf von 52 Patienten selbst behandeln würden, hätten Ärzte täglich eine Stunde mehr Zeit.

Als die drei wichtigsten Selfcare-Punkte in Deutschland nannte er Lebensstilcoaching mit Raucherentwöhnung, Männer- und Frauengesundheit (Beispiel PDE-5-Hemmer und Minipille) und schließlich Pharmazeutische Dienstleistungen wie Impfungen.

Vorteile der Selbstmedikation stärker betonen

Auch wenn das englische Gesundheitssystem mit staatlicher Finanzierung nicht mit dem deutschen vergleichbar sei, könnte Pharmacy first ein guter Ansatz sein, sagte Preis bei der anschließenden Podiumsdiskussion. Angesichts der Herausforderungen müssten neue Wege eingeschlagen werden. Anlässlich des Deutschen Apothekertags sei bereits klar gesagt worden, dass Apotheken mehr wagen wollen, darunter auch die assistierte Telemedizin.

Barbara Steffens, Leiterin der Landesvertretung NRW der Techniker Krankenkasse und ehemalige NRW-Gesundheitsministerin, betonte, dass viele Patienten schon heute das niedrigschwellige Angebot der Apotheken nutzen würden, bevor sie zum Arzt gehen. Ein Problem sei jedoch die Konsumhaltung von Gesundheitsleistungen der gesamten Bevölkerung. Wichtig wäre zu differenzieren, wer eine ärztliche Versorgung benötigt und wann Selbstmedikation helfen kann, sowie eine digitale Steuerung, um Patienten zu leiten.

Sie bekräftigte die Rolle der Apotheken in »Pantoffelnähe« als zentrale Säule der Gesundheitsversorgung und warb für eine noch stärkere Lotsensfunktion. Eine Lösung wie in England oder der Schweiz sei jedoch nicht auf Deutschland übertragbar. Den Arzt sieht Steffens in der Gesundheitsversorgung weiterhin an erster Stelle. 

Hennrich betonte, dass zu viel über die Ängste vor zukünftigen Entwicklungen gesprochen würde und weniger über die Chancen. Die Vorteile der Selbstmedikation müssten stärker betont werden. Patienten fänden es prinzipiell toll, nicht zum Arzt zu müssen und schnell ein Medikament zu bekommen.

May ergänzte, dass Selbstmedikation nur funktionieren kann, wenn in Apotheken dazu beraten oder auch einmal davon abgeraten wird. Preis brachte es auf den Punkt: »Wir müssen noch ein bisschen mehr den Heilberufler rauskehren.«

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