Bei Kindern oft nicht die beste Wahl |
Bevor Eltern ihrem Kind bei Schlafstörungen Melatonin geben, sollten sie die Ursache des Problems ärztlich abklären lassen. / Foto: Adobe Stock/S. Kobold
Nahrungsergänzungsmittel mit Melatonin sind ohne Rezept und mittlerweile sogar im Supermarkt erhältlich. Darreichungsformen wie Gummibärchen scheinen nahezulegen, dass auch Kinder damit schneller einschlafen und erholter aufwachen. Das ist aber ein Trugschluss (siehe Kasten).
Nahrungsergänzungsmittel (NEM) mit Melatonin sind nicht harmlos. Sie unterliegen nicht der Kontrolle der Arzneimittelsicherheit und dürfen gemäß Definition nicht pharmakologisch wirksam sein. Qualitative Unterschiede sind nicht auszuschließen, Über- und Unterdosierungen sind möglich. Eine Kontrolle des Wirkstoffgehalts ist nicht vorgeschrieben. Die Hersteller von NEM müssen auch nicht auf Nebenwirkungen hinweisen.
Diese können bei Melatonin durchaus auftreten. In Studien wird über Kopfschmerzen, Veränderungen der Stimmung und des Appetits, ein Kältegefühl und Schwindel berichtet. Aus den USA sind Fälle von Vergiftungen mit schwerwiegenden Folgen bekannt geworden, sogar von Todesfällen im zeitlichen Zusammenhang mit Melatonin-Überdosierungen bei Kindern ist die Rede (»Morbidity and Mortality Weekly Report« 2022, DOI: 10.15585/mmwr.mm7122a1). Langzeiteffekte sind noch weitgehend unbekannt. »Daten lassen nicht ausschließen, dass Prozesse wie der Pubertätseintritt durch eine längerfristige Melatonin-Behandlung gestört werden könnten«, sagt Schlafmediziner Professor Dr. Ekkehart Paditz.
Melatonin ist eine körpereigene Substanz. Der Körper bildet das Hormon in zahlreichen Geweben und Organen. Für die Wirkung auf den Schlaf-Wach-Rhythmus ist die Produktion in der Zirbeldrüse im Gehirn (Glandula pinealis) relevant. Über die Netzhaut des Auges wird abends die abnehmende Helligkeit registriert und an den Nucleus suprachiasmaticus (SCN) übermittelt. Dieser regt die Zirbeldrüse über den Botenstoff Noradrenalin an, das Hormon zu bilden. Beim Menschen bereitet Melatonin den Körper auf die nächtliche Ruhephase vor. Das hat zur umgangssprachlichen Bezeichnung »Schlafhormon« geführt.
Daten unter anderem aus den USA zeigen, dass immer mehr Erwachsene Melatonin einnehmen und es an ihre Kinder weitergeben. Pädiater wie Professor Dr. Ekkehart Paditz aus Dresden weisen darauf hin, dass Schlafstörungen bei Kindern eine ganze Reihe verschiedener Ursachen haben können, die zunächst der Kinderarzt abklären sollte. Weder Medikamente noch Melatonin seien Mittel der ersten Wahl.
»Je nach Ursache können Hinweise zur Schlafhygiene, kinder- und jugendpsychiatrisch-psychologische Maßnahmen, HNO-ärztliche Untersuchungen oder die Überweisung in ein Kinderschlaflabor angezeigt sein«, sagt Paditz, der Mitglied der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) ist. Erst wenn bei einer bestätigten Ein- beziehungsweise Durchschlafstörung keine erklärbare Störung vorliege und die Therapien der Wahl nicht geholfen hätten, könne Melatonin erwogen werden. Bei gesunden Kindern ist die Studienlage dafür jedoch dünn.
Klinische Daten liegen für die Anwendung bei bestimmten neurologischen Erkrankungen vor. Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) können laut einigen randomisierten placebokontrollierte Studien von Melatonin profitieren. Für sie und zwei- bis 18-Jährige mit dem Smith-Magenis-Syndrom steht mit Slenyto® seit Januar 2019 ein zugelassenes Melatonin-haltiges Arzneimittel zur Verfügung. Es ist indiziert, wenn bei der genannten Patientengruppe nicht medikamentöse Maßnahmen den Schlaf nicht ausreichend verbessern.
Die Wirksamkeit lässt sich dadurch erklären, dass Menschen mit ASS eine abnormale zirkadiane Rhythmik der Melatoninfreisetzung aufweisen können. Gemäß einem Review aus dem Jahr 2014 ist die Gabe von exogenem Melatonin bei abnormalen Schlafparametern bei ASS als evidenzbasiert zu betrachten. Die Autoren berichteten von höchstens minimalen Nebenwirkungen (»Current Clinical Pharmacology«, DOI: 10.2174/15748847113086660072).
Es gibt auch Hinweise, dass Melatonin Kindern bei Schlafstörungen im Rahmen von anderen neurologischen Auffälligkeiten wie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder geistiger Behinderung helfen kann sowie bei einigen genetisch bedingten Entwicklungsstörungen wie dem Rett-Syndrom und chronischen Erkrankungen wie der atopischen Dermatitis. Dabei ist allerdings zu beachten, dass an erster Stelle immer die Therapie der eigentlichen Ursache der Schlafprobleme stehen sollte. Bei Kindern mit atopischer Dermatitis ist entsprechend primär der Juckreiz zu behandeln, der am Einschlafen hindert.
Beim Syndrom der verzögerten Schlafphasen (DSPD) sezerniert der Körper verzögert Melatonin, so dass die abendliche Schläfrigkeit später einsetzt. Die natürliche morgendliche Aufwachzeit ist ebenfalls später, wird aber durch soziale Rahmenbedingungen wie Schule oder Kindergarten schon früher erzwungen. Das Syndrom tritt häufig in der Pubertät und vor allem bei Jungen auf. Betroffene leiden infolge des gestörten Rhythmus unter Tagesschläfrigkeit. Hier kann Melatonin einer Metaanalyse zufolge Erleichterung verschaffen (»Sleep« 2010, DOI: 10.1093/sleep/33.12.1605). Probleme mit dem zirkadianen Rhythmus bei blinden Menschen werden als Non-24-Syndrom bezeichnet. In kontrollierten Studien wurde aber noch nicht untersucht, ob Melatonin auch bei betroffenen Kindern wirksam ist.
Die Halbwertszeit von nicht retardiertem Melatonin beträgt etwa 40 Minuten. 30 bis 60 Minuten nach Einnahme wird der maximale Plasmaspiegel erreicht. Nicht retardierte Produkte eignen sich daher vor allem bei Einschlafstörungen. Die verzögerte Freisetzung bei retardiertem Melatonin verlängert die Wirkdauer auf fünf bis sieben Stunden. Diese Präparate sind für Störungen mit nächtlichem Aufwachen geeignet.
Es ist noch nicht ausreichend erforscht, ob Kindern Melatonin in Form des verschreibungspflichtigen, retardierten Präparats Slenyto besser hilft als nicht retardierte Zubereitungsformen. »Klar ist jedoch, dass Kinder und Jugendliche im Regelfall möglichst mit ärztlich verordneten und zugelassenen Präparaten behandelt werden sollten«, sagt der Schlafmediziner. Wird Slenyto außerhalb des zugelassenen Indikationsgebiets angewendet, ist eine Kostenübernahme nicht selbstverständlich. »Bei Off-Label-Anwendungen sollte eine fundierte ärztliche Begründung beim zuständigen Kostenträger vorgelegt werden. Die Kostenübernahme oder Bezuschussung erfolgt als Einzelfallentscheidung«, sagt Paditz.
Forschungsbedarf besteht noch, welche Dosis für Kinder und Jugendliche ideal ist. »Niedrige Dosierungen ab 0,25 bis 0,5 mg sind oft ausreichend. Erst nach circa drei Monaten sollte über Dosisanpassungen entschieden werden, da Effekte nicht immer sofort sichtbar sind«, erklärt Paditz. Er empfiehlt einen Auslassversuch nach sechs Monaten von mindestens zwei Wochen. Dann könne man einschätzen, ob eine längerfristige Behandlung möglicherweise vermieden werden könne.
Wenn sich Eltern in der Apotheke zu Melatonin als Einschlafhilfe für den Nachwuchs beraten lassen möchten, zeigt das Team am besten zunächst Verständnis für die Sorgen der Eltern. »Wichtig ist der Hinweis, dass vor der Therapie immer erst die Diagnostik stehen sollte«, betont Paditz. Melatonin erscheine zwar als eine einfache und schnelle Lösung, sei aber nicht unbedingt die richtige. Im Einzelfall könne die Ursache des Problems komplexer sein. »Bei einer vergrößerten Rachenmandel als Grund für die Schlafstörung könnte diese beispielsweise vor der Entscheidung zur Operation mit einem kortikoidhaltigen Nasenspray, aber keinesfalls mit Melatonin behandelt werden.«
Damit die Anwendung von Melatonin in Zukunft evidenzbasiert erfolgen kann, arbeitet Paditz zusammen mit Kollegen an einer Leitlinie. Die S2e-Leitlinie »Indikationen für Melatonin als schlafförderndes Mittel bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter« soll Mitte 2023 vorliegen.