»Begleitschäden in der Arzneimittelversorgung« |
Ev Tebroke |
20.10.2022 16:33 Uhr |
Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz kommen auf Apotheker und Arzneimittelhersteller zahreiche Sparmaßnahmen zu. / Foto: Imago/Christian Ohde
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Lange hatte die Apothekerschaft versucht, die aus ihrer Sicht unsäglichen Sparmaßnahmen, die das GKV-Spargesetz für sie vorgesehen hat, abzuwenden. Vergeblich. Trotz etlicher Änderungsanträge, die auf den letzten Metern noch Eingang in die Gesetzesvorlage fanden, die Apotheken profitierten nicht davon. Das Gesetz, mit dem die Bundesregierung das rund 17 Milliarden Euro schwere Finanzdefizit der Gesetzlichen Krankenversicherung in 2023 (GKV) abfedern will, ist seit heute verabschiedet. Während sich Kassen und Ärzte über ein kleines beziehungsweise großes Entgegenkommen der Ampelkoalition freuen konnten, muss die Apothekerschaft die angedrohten Honorarkürzungen unverändert hinnehmen. Auch die Pharmaindustrie sieht sich mit aus ihrer Sicht erheblichen Einschnitten bei ihrer Preispolitik konfrontiert. Entsprechend ernüchtert sind die Reaktionen.
»Dies ist ein schwarzer Tag für die Apotheken in Deutschland«, kommentiert ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening den Bundestagsbeschluss. Für die kommenden zwei Jahre müssen die Apotheken 2 Euro Rabatt für jedes abgegebene Rx-Medikament an die Kassen abführen. Bislang liegt dieser Kassenabschlag bei 1,77 Euro. Das entspricht laut ABDA einer Belastung der bundesweiten 18.000 Apotheken in Höhe von 120 Millionen Euro Jahr (Netto). »Wir haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren der Politik geholfen, die Pandemie zu meistern. Als Dank dafür wird ausgerechnet jetzt, wo die Apotheken wegen Inflation und Energiekrise selbst Hilfe und Entlastung bräuchten, die Vergütung gekürzt.« Nach Ansicht der ABDA hat es bis zuletzt finanzielle Spielräume bei der Gestaltung des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes gegeben, die Bundesregierung und Parlament einfach nicht für die Apotheken vor Ort hätten nutzen wollen. Und Overwiening unterstreicht erneut: »Die Apotheken sind keine Kostentreiber. Unser Anteil an den jährlichen GKV-Ausgaben liegt bei 1,9 Prozent. Seit 2005 ist die Tendenz sinkend. Das sind Fakten, die neben der Politik auch der GKV-Spitzenverband endlich anerkennen muss.« Und im Hinblick auf die Gesetzgebung in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode sagt die ABDA-Präsidentin: »Die Politik ist in der falschen Richtung unterwegs. Sie muss umkehren und Apotheken entlasten. Dafür werden wir kämpfen. Dass wir das können, haben wir in dieser Woche eindrucksvoll mit den Schwerpunktstreiks in vier Bundesländern gezeigt, an denen sich enorm viele Apotheken beteiligt haben.«
Die Pharmaindustrie ihrerseits befürchtet durch die per Gesetz drohenden Sparmaßnahmen »Begleitschäden in der Arzneimittelversorgung«, wie es der Verband der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) formuliert.
»Das Gesetz ändert die Geschäftsgrundlage der pharmazeutischen Industrie in Deutschland grundlegend«, kritisiert vfa-Präsident Han Steutel. So resultierten alleine aus dem sogenannten Herstellerrabatt zusätzliche Belastungen von 1,3 Milliarden Euro für 2023. Hinzu kämen gravierende Eingriffe in das Erstattungssystem. Dies verstärkt Steutel zufolge den Kostendruck und habe unmittelbar negative Konsequenzen für die Investitionstätigkeit.
»Es bleibt das Geheimnis der Ampelkoalition, warum sie im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes die Erstattungsbedingungen für Arzneimittel weiter verkompliziert und verschlechtert«, so Steutel. Ohne dabei viel Geld für das System sparen zu können, würden große Risiken von medizinischen Versorgungslücken in Kauf genommen: »Insbesondere auf dem Zukunftsfeld der Onkologie«.
Die Arzneimittelhersteller sehen zudem mit dem Gesetz die Generika-Versorgung hierzulande in Gefahr. »Das heute vom Bundestag beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gefährdet die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit innovativen und generischen Arzneimitteln. Zudem schadet es insgesamt dem Standort Deutschland,« so Hubertus Cranz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Dass der Gesetzgeber angesichts eines seit 2009 bestehenden Preismoratoriums und einer nunmehr auf 10 Prozent gestiegenen Inflationsrate weitere Belastungen für die Arzneimittel-Hersteller beschlossen habe, sei nicht vermittelbar und stehe im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der noch für die Stärkung des Standorts und die Weiterentwicklung der Versorgung stand. »Die Krisen sind allgegenwärtig, umso wichtiger wäre es gewesen, für die Unternehmen keine zusätzlichen Belastungen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro zu beschließen. Vielmehr wäre die Chance zu ergreifen, die Arzneimittelversorgung der Menschen sowie den Pharmastandort Deutschland zu stärken und zukunftsfest zu gestalten«, resümiert Cranz.
Insbesondere die vom Gesetzgeber angestrebten sogenannten AMNOG-Leitplanken würden dem therapeutischen Fortschritt in Deutschland nachhaltig schaden. Wenn Arzneimittel, denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen nicht quantifizierbaren oder geringen Zusatznutzen attestiert hat, systematisch abgewertet würden, nehme man vielen Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, besser versorgt zu werden. »Die Hürden für Innovationen werden so hochgeschraubt, dass weniger Neueinführungen in der Versorgung ankommen werden«, fürchtet Cranz. Erste Unternehmen hätten bereits Konsequenzen gezogen und Markteinführungen innovativer Arzneimittel zurückgestellt. Die Hersteller monieren zudem die Erhöhung des Herstellerabschlags ab dem kommenden Jahr von 7 auf dann 12 Prozent. Betroffen hiervon sind laut BAH neben patentgeschützten Arzneimitteln auch für die Versorgung ebenso relevante Bestandsprodukte.
Mit dem Spargesetz habe der Gesetzgeber den falschen Weg eingeschlagen, so das Resümee. Anstatt weiter die Grundlagen von Wachstum und Wohlstand zu beeinträchtigen, sei es dringend an der Zeit, langfristig ausgerichtete Strukturreformen anzugehen.
Strukturreformen vermisst auch die Generikabranche. In Zeiten von immer gravierenderen Arzneimittelengpässen hätte das Gesetz Maßnahmen beinhalten müssen, die die Versorgungssicherheit stabilisieren. Doch die Bundesregierung ergreife diese nicht – und riskiere die weitere Destabilisierung der Versorgungssicherheit, so die Kritik aus dem Branchenverband Pro Generika.
»Der politisch gewollte Kostendruck der vergangenen Jahre hat die Arzneimittelversorgung immer brüchiger werden lassen«, unterstreicht Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. Immer mehr Hersteller hätten sich etwa aus der Produktion zurückgezogen, weil sie nicht mehr wirtschaftlich war. Als mahnende Beispiele nennt er die Engpässe beim Krebsmittel Tamoxifen oder den Fiebersäften für Kinder. Die Inflation verschärfe das Problem noch, denn Generika-Hersteller können die explodierenden Kosten nicht auf den Preis umlegen. »Es liegt in der Verantwortung der Politik, hier einzugreifen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hätte die Gelegenheit geboten, genau das zu tun. Doch die Regierung lässt diese Chance in gefährlicher Passivität einfach verstreichen. Die Folge werden weitere Engpässe sein.«
Für den Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BDI) ist das Gesetz ein »politischer Schnellschuss der Ampel-Koalition«, der »gravierende Einschnitte für den Gesundheitsstandort Deutschland« nach sich ziehen dürfte. Mit den erzwungenen Herstellerrabatten und Eingriffen in das Erstattungssystem für Arzneimittel nehme die Politik der deutschen Gesundheitsindustrie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. »Zusätzliche milliardenhohe Belastungen in einer Krisenzeit sind das falsche Signal an Unternehmen, die bereits mit enormen Preissteigerungen zu kämpfen haben«, sagt Iris Plöger, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung.
Die SPD wertet das Gesetz naturgemäß als Erfolg. »Wir setzen eine klare Botschaft: Auch in Krisen wird es keine Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung geben«, so die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt. Das Gesetz beinhalte in schwierigen Zeiten einen ausgewogenen Finanzierungsvorschlag, der die verschiedenen Bereiche gerecht und solidarisch an einer nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems beteiligt. »Damit sichern wir den Wirtschaftsstandort in Deutschland und dämmen die Steigerung der Kosten für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ein.« Das alleine werde aber nicht ausreichen. »Wir werden zeitnah über weitere Strukturreformen wie zum Beispiel im Krankhaussystem beraten, um die nachhaltige Finanzierung und gleichzeitig die hohe Qualität unseres Gesundheitssystems für die Zukunft zu sichern.«
Die Opposition kritisiert wiederum die höhere Belastung der gesetzlich Krankenversicherten. Denn das Gesetz sieht vor, den Zusatzbetrag um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen. »Statt der von SPD und Grünen vor der Wahl versprochenen gerechteren Finanzierung der Krankenversicherung liefert die Ampelkoalition nun einen Rekordbeitrag von 16,2 Prozent für gesetzlich Krankenversicherte, der die Belastungen durch Inflation, Energiepreiskrise und Rezession noch verstärkt. Doch statt weiterer Belastungen braucht es endlich reale Entlastungen für die Menschen«, erklärte Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Schon 2024 drohten weitere Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen, obwohl doch Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) diese immer wieder ausgeschlossen habe. »Inzwischen wird aber die Gesundheitspolitik im Finanzministerium gemacht, und das führt zu einer sehr einseitigen Belastung der Versicherten. Noch im Wahlkampf hatten SPD und Grüne versprochen, die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung gerechter zu gestalten. Stattdessen müssen nun die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Versicherten den Löwenanteil des Finanzlochs stopfen.«
Auch die Kassen kritisieren die Belastung der Versicherten, wie etwa der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit, Andreas Storm, betonte. »Der überwiegende Teil der Finanzierungslücke in der Gesetzlichen Krankenversicherung wird durch die Beitragszahlerinnen und Betragszahler geschlossen. Diese weit überproportionale Belastung der Beitragszahlenden halte ich in Zeiten ohnehin steigender Kosten für falsch«, so Storm. Gleichzeitig begrüßt er aber die Korrekturen beim Rücklagenabbau der Kassen. Hier haben sie nun 4 Millionen Euro Schonvermögen, statt wie zunächst vorgesehen 3 Millionen Euro. »Die Kassenrücklagen müssen nun nicht mehr bis aufs absolute Minimum oder darüber hinaus abgebaut werden,« sagt Storm. »Das hilft, um ein Mindestmaß an finanzieller Stabilität in den Kassenhaushalten für das kommende Jahr zu schaffen.« Auch aus Kassensicht kann das GKV-Spargesetz nur ein erster Schritt sein. »Strukturreformen müssen folgen – also ein Finanzstabilisierungsgesetz, das diesen Namen verdient, weil es über 2023 hinaus wirkt«, so das Fazit.
Die Kassenärzte hatten quasi auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens noch Zugeständnisse aus der Ampel-Koalition erhalten. Neben den Einsparungen durch die gestrichene Neupatientenregelung sollen die Mediziner eine ganz neue Honorarkomponente erhalten, wenn sie kurzfristig neue Patienten übernehmen, die von der Terminservicestelle vermittelt wurden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist trotzdem unzufrieden mit dem Spargesetz. Auf Twitter teilte die KBV mit:
Das beschlossene #GKVFinStG verschlechtert die Lage der chronisch unterfinanzierten ambulanten Versorgung weiter und sendet das Signal, dass Praxen zwar der Lastesel der Versorgung sind, aber im Gegensatz zu Krankenhäusern keine angemessene finanzielle Ausstattung bekommen.
— Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (@kbv4u) October 20, 2022