Schmaler Grat zwischen Infektion und Abstoßung |
07.12.2010 15:17 Uhr |
Von Sven Siebenand / Bei der Pharmazeutischen Betreuung nierentransplantierter Patienten gibt es einiges zu beachten. Großes Augenmerk gilt der immunsuppressiven Therapie. Susanne Schwickert, Apothekerin in der Krankenhausapotheke der Berliner Charité, erklärt, worauf es dabei ankommt.
PZ: Wie viele Organtransplantationen finden pro Jahr in Deutschland statt?
Schwickert: Die Anzahl der Transplantationen ist von Jahr zu Jahr unterschiedlich. In den Jahren 2007 bis 2009 waren es jeweils zwischen 4000 und 4500.
PZ: Wie viele davon sind Nierentransplantationen?
Schwickert: Bei mehr als der Hälfte aller Transplantationen handelt es sich um eine Niere. Im Jahr 2009 waren es zum Beispiel 2700 Nierentransplantationen.
PZ: Wie lange »hält« im Durchschnitt eine neue Niere?
Schwickert: Das Transplantatüberleben ist sehr stark von den Voraussetzungen des Empfängers und des Spenders abhängig. Vor allem das Alter und die Gesundheit beider Parteien, die Übereinstimmung von Spender und Empfänger und die Ischämiezeit des Organs spielen eine Rolle. Im Durchschnitt werden knapp 10 Prozent der Organe im ersten Jahr abgestoßen. Nach 20 Jahren »überleben« noch 50 Prozent der Transplantate. Es ist jedoch sehr schwierig, hierzu genaue Angaben zu machen, da gerade bei älteren Patienten das Transplantatüberleben durch die Patientenmortalität bestimmt ist. Junge, ansonsten gesunde Patienten können mit dem neuen Organ bei guter Übereinstimmung von Spender und Empfänger auch wesentlich länger leben.
PZ: Wie sieht die typische immunsuppressive Therapie nach Nierentransplantation aus?
Schwickert: Zur Immunsuppression bei und nach einer Nierentransplantation wird als Standard eine Tripeltherapie aus Ciclosporin oder einem Calcineurininhibitor, meist Tacrolimus, Mycophenolsäure oder Mycophenolatmofetil und einem Cortisonpräparat, meist Prednisolon, eingesetzt. Ciclosporin und Calcineurininhibitoren werden dabei nach dem Blutspiegel dosiert, der anfangs täglich überprüft werden muss. Das Tacrolimus-haltige Präparat Prograf® wird zweimal täglich, morgens und abends in zwölfstündigem Abstand verabreicht, das andere Tacrolimus-haltige Mittel, Advagraf®, nur einmal täglich. Mycophenolat wird in einer Standarddosis von zweimal täglich 1000 mg gegeben. Prednisolon erhält der Patient zu Beginn in hoher täglicher Dosierung von etwa 100 mg. Diese wird über drei bis sechs Monate kontinuierlich bis zu einer Erhaltungsdosis von 5 bis 7,5 mg täglich reduziert.
PZ: Welchen pharmakologischen Wirkmechanismus haben die eingesetzten Wirkstoffe?
Schwickert: Ciclosporin hemmt die Bildung und Freisetzung von Lymphokinen, einschließlich Interleukin 2. Der Wirkstoff blockiert offensichtlich die ruhenden Lymphozyten in der G0- oder G1-Phase des Zellzyklus und hemmt die Freisetzung von Lymphokinen aus aktivierten T-Zellen.
Tacrolimus ist ein Calcineurininhibitor. Es führt zu einer calciumabhängigen Hemmung von Signaltransduktionswegen in der T-Zelle.
Mycophenolsäure ist ein reversibler Inhibitor der Inosin-Monophosphat-Dehydrogenase und hemmt dadurch den Denovo-Syntheseweg bestimmter Purine. Da die Proliferation von T- und B-Lymphozyten entscheidend von der Denovo-Synthese von Purinen abhängig ist, wohingegen andere Zelltypen einen alternativen Syntheseweg, den Salvage-Pathway, nutzen können, hat Mycophenolsäure einen stärkeren zytostatischen Effekt auf Lymphozyten als auf andere Zellen.
Prednisolon wirkt primär durch eine Aktivierung des zytosolischen Glucocorticoidrezeptors. Hierdurch wird im Zellkern die Synthese von Proteinen ausgelöst, die die Wirkung des Prednisolons realisieren. Daneben erfolgt die Wirkung sowohl über eine Hemmung von Prostaglandinen und Leukotrienen als auch über eine IL-2-Hemmung.
PZ: Wie unterscheiden sich Tacrolimus und Ciclosporin? Wann kommt der eine, wann der andere Wirkstoff zum Einsatz?
Schwickert: Bei der Wahl der Therapie berücksichtigt der Arzt vor allem das Abstoßungsrisiko und die möglichen Nebenwirkungen. Auch verschiedene individuelle Faktoren und die Vorgeschichte des Patienten spielen eine Rolle. Ciclosporin wird bei guter Übereinstimmung von Spender und Empfänger und nur bei Ersttransplantation eingesetzt. Bei Zweittransplantation verordnet der Arzt meist Tacrolimus, da es Ciclosporin in seiner Wirkung überlegen ist. Allerdings sollte Tacrolimus insbesondere bei erhöhter Diabetes-Prädisposition vermieden werden, da die Entwicklung dieser Krankheit eine Nebenwirkung darstellt.
PZ: Welche Abgabehinweise gibt es bei den Immunsuppressiva zu beachten?
Schwickert: Sowohl bei Ciclosporin als auch bei Tacrolimus trifft ein hohes Interaktionspotenzial auf eine geringe therapeutische Breite. Daher ist hier streng auf Interaktionen zu achten. Es ist wichtig, dem Patienten die Bedeutung der streng regelmäßigen Einnahme nach Plan und die Absprache der Einnahme aller anderen Arzneimittel, auch freiverkäufliche und apothekenpflichtige Präparate, zu veranschaulichen. Des Weiteren sollte der Patient die Verhaltensregeln zur Vermeidung von Infektionen unter immunsuppressiver Therapie kennen. Auch über die zahlreichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen muss man ihn aufklären. Dies gilt insbesondere für das Cortison bei anfänglich sehr hohen Dosierungen. Tacrolimus ist zudem hygroskopisch und sollte daher beim »Stellen« in einer Dosette im Blister verbleiben. Die Packung enthält ein Trockenmittel, das der Patient auf keinen Fall mit einnehmen darf. Der Abstand zum Essen sollte hier jeden Tag gleich sein, da die Pharmakokinetik von Tacrolimus von der Nahrung therapierelevant beeinflusst wird.
PZ: Warum ist Therapietreue gerade nach Organtransplantation besonders wichtig?
Schwickert: Eine Besonderheit bei transplantierten Patienten ist, dass diese Patienten häufig multimorbid sind und daher sehr viele Arzneimittel einnehmen müssen. Das macht die Therapie und deren korrekte Umsetzung sehr kompliziert. Zum anderen müssen gerade die Immunsuppressiva durch das hohe Interaktionspotenzial kombiniert mit einer geringen therapeutischen Breite äußert exakt eingenommen werden. Bei Non-Compliance ist mit fatalen Folgen zu rechnen. Schon bei kleineren Abweichungen von der vorgegebenen Therapie kann es zu einer Organabstoßung oder einer schweren Infektion kommen. Zusätzlich muss der Patient unter Immunsuppression viele Verhaltensregeln einhalten, um eine sichere Therapie zu gewährleisten.
PZ: Therapeutisches Fenster: Wie lässt es sich überwachen und was passiert, wenn der Wirkspiegel zu hoch beziehungsweise zu niedrig ist?
Schwickert: Um herauszufinden, ob sich die Plasmakonzentration eines Wirkstoffes im therapeutischen Fenster befindet, veranlasst der Arzt die Bestimmung der Spiegel. Bei Ciclosporin und Tacrolimus ist das eine etablierte Standardmaßnahme. Es werden die Talspiegel, also die Plasmakonzentrationen vor der Einnahme der nächsten Dosis, bestimmt. Daher ist es wichtig, dass der Patient komplett nüchtern, also vor der Einnahme seiner Arzneimittel, zur Kontrolluntersuchung erscheint.
Man sollte sich jedoch immer vor Augen führen, dass die Plasmaspiegel nur eine Orientierungshilfe zur Wahl der richtigen Dosierung sein können. Zusätzlich gilt es, Wirkung und Nebenwirkungen stets zu überprüfen. Die Zielspiegel können dabei bei den einzelnen Patienten sehr unterschiedlich sein.
Sind die Plasmakonzentrationen der Immunsuppressiva zu hoch, so kann das zu einer Infektion und im schlimmsten Fall zu einer Sepsis führen. Zu geringe Plasmakonzentrationen erhöhen die Gefahr einer Abstoßungsreaktion.
PZ: Ciclosporin ist mittlerweile generisch verfügbar: Ist ein Präparatewechsel in Anbetracht der engen therapeutischen Breite nicht gefährlich?
Schwickert: Da die Bioverfügbarkeiten eines Wirkstoffes bei Generika sehr stark voneinander abweichen können, sollte eine Präparateumstellung bei Immunsuppressiva nur in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Nephrologen stattfinden. Die Blutspiegel müssen in der ersten Zeit häufiger überwacht werden. Ist diese Betreuung gegeben, ist eine Umstellung jedoch unproblematisch. Bei häufigeren Umstellungen wird wegen dieses notwendigen Aufwandes jedoch kein finanzieller Vorteil für die Krankenkassen generiert.
PZ: Was ist zu tun, wenn der Patient die Einnahme vergessen hat?
Schwickert: Das Vorgehen hängt davon ab, welches Immunsuppressivum vergessen wurde. Generell darf bei keinem der Wirkstoffe eine Verdoppelung der Dosis erfolgen. Die Einnahme von Calcineurininhibitoren und Ciclosporin darf nur bis vier Stunden nach dem vorgesehenen Einnahmezeitpunkt nachgeholt werden. Prednisolon kann der Patient laut Fachinformation im Laufe des Tages noch einnehmen. Man kann dem Patienten ein Nachholen der Dosis bis zu zwölf Stunden nach dem vorgegebenen Einnahmezeitpunkt empfehlen. Für Mycophenolsäure-Präparate gibt es keine konkrete Angabe in der Fachinformation. Wegen eines stark ausgeprägten enterohepatischen Kreislaufs der Mycophenolsäure kommt es zu einem sekundären Anstieg der Plasmakonzentration nach sechs bis zwölf Stunden. Damit dieser nicht mit der nächsten Gabe zusammenfällt, sollte eine verspätete Einnahme auch hier nur bis zu vier Stunden nach der vorgesehenen Einnahme erfolgen. Ansonsten muss die Dosis wegfallen und mit der nächsten Gabe fortgefahren werden.
PZ: Was gibt es an praxisrelevanten Interaktionen bei den Immunsupressiva zu bedenken? Welche Hinweise können Apotheker geben?
Schwickert: Zu den praxisrelevanten Interaktionen gehört vor allem die erhöhte Rhabdomyolysegefahr bei der Kombination von Statinen und Ciclosporin. Statine sollen in diesem Fall nur in eingeschränkter Dosierung gegeben werden. Mit Fluvastatin ist die Ausprägung der Interaktion am geringsten. Tacrolimus und Ciclosporin interagieren zudem mit CYP-Inhibitoren und -Induktoren. Dabei spielen bei Tacrolimus vor allem die Wechselwirkungen mit Antimykotika wie Ketoconazol und Itraconazol sowie HIV-Protease-Inhibitoren wie Ritonavir eine Rolle. Des Weiteren beeinflusst die Einnahme von bivalenten Kationen die Resorption von Mycophenolsäure (Mycophenolatmofetil). Das kann durch einen ausreichenden zeitlichen Abstand zwischen den Einnahmen leicht vermieden werden. Sowohl bei Ciclosporin als auch bei Tacrolimus kann es zudem zu Interaktionen mit Früchten, vor allem mit Citrusfrüchten, kommen. Grapefruit, Pampelmuse und Pomelo sind daher tabu. Orangen- und Apfelsaft sollten die Patienten nur mit mindestens einer Stunde Abstand zur Arzneimitteleinnahme trinken.
PZ: Welche unerwünschten Arzneimittelwirkungen sind typisch? Wie kann der Apotheker unter Umständen helfen?
Schwickert: Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören eine erhöhte Infektions- und Tumorneigung durch die Suppression des Immunsystems. Daher sollte die Keimlast reduziert und einmal jährlich ein Hautarzt aufgesucht werden. Es können auch andere Hautveränderungen und eine verschlechterte Wundheilung auftreten. Bei Haarausfall kann der Apotheker eine Therapie mit Minoxidil empfehlen. Zudem können die Immunsuppressiva verschiedene Stoffwechselerkrankungen auslösen. Dies sind vor allem Blutdruckveränderungen, eine Erhöhung der Blutfettwerte und Diabetes mellitus. Auch eine Osteoporose kann sich entwickeln. Um diese Krankheiten rechtzeitig zu erkennen, sollte der Arzt Blutdruck, Blutzucker und Blutfettwerte sowie die Knochendichte der Patienten im Auge behalten. Die Bestimmung von Blutdruck und Blutzucker sollten die Patienten zusätzlich selbst beziehungsweise in der Apotheke durchführen. Weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Immunsuppressiva sind Blutergüsse, Gewichtszunahme, gastrointestinale Beschwerden und Fieber mit Neutropenie. Diese lassen sich durch Anpassung der Dosierungen jedoch verringern.
PZ: Stellen Impfungen für nierentransplantierte Patienten eine Gefahrenquelle dar?
Schwickert: Das hängt von der Art der Impfung ab. Lebendimpfstoffe werden bei Immunsupprimierten in der Regel nicht angewendet, da die Gefahr einer Infektion zu hoch ist. Totimpfstoffe sind oft sinnvoll – die Immunreaktion des Patienten kann jedoch reduziert sein, sodass kein ausreichender Schutz gewährleistet ist. Passive Immunisierungen mit spezifischen Immunglobulinen sind vollkommen unbedenklich. Ein Grippeschutz ist meistens vorteilhaft zu bewerten. Die Entscheidung dafür oder dagegen muss immer von einem erfahrenen Nephrologen getroffen werden.
PZ: Welche weiteren Ratschläge und Verhaltensregeln sollten Nierentransplantierte kennen?
Schwickert: Neben einer gesunden Lebensweise mit ausreichend Bewegung steht insbesondere die Reduktion des Infektionsrisikos im Vordergrund. Hierzu gehören die ausreichende und richtige Reinigung der Hände, der Schutz vor infizierten Personen und die Hygiene in der eigenen Wohnung, vor allem, wenn Haustiere gehalten werden. Die Patienten sollten darauf achten, Geschirr gut zu reinigen, am besten im Geschirrspüler. Ferner sollten sie nur Schneidebretter aus Glas verwenden. Lebensmittel sind stets gut zu kochen oder durchzubraten, Gemüse und Obst – insbesondere Bioprodukte – sind unter fließendem Wasser zu waschen. Nahrungsmittel, bei denen eine erhöhte Gefahr von Schimmelbildung besteht, sind ungeeignet für immunsupprimierte Patienten. Hierzu zählen neben Schimmelkäse auch Müsli und Nüsse. Bei Arbeit im Garten sollten die Patienten Handschuhe tragen und zum Schutz vor Hauttumoren ist ein starker Sonnenschutz unerlässlich. Eine ausreichende Trinkmenge in Absprache mit dem behandelnden Arzt erhält die Nierenfunktion.
PZ: Was sind Alarmhinweise für eine Organabstoßungsreaktion?
Schwickert: Die wichtigsten Alarmsignale sind Fieber und Veränderungen des Urins in Farbe, Geruch und Menge. Eine Flüssigkeitsretention durch unzureichende Transplantatfunktion äußert sich auch in Ödembildung, dauerhafter Blutdruckerhöhung und Einlagerung von Wasser in der Lunge, was sich in Atmungsbeschwerden äußert. Schmerzen beim Wasserlassen und ein Druckgefühl am Transplantat können ebenso eine Abstoßungsreaktion anzeigen wie Veränderungen der Haut, Müdigkeit, Abgeschlagenheit und andere unspezifische Symptome. /
Apothekerin Susanne Schwickert studierte Pharmazie in Regensburg und erhielt die Approbation im Jahr 2007. Seit 2009 arbeitet sie in der Krankenhausapotheke der Berliner Charité. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit dort ist die Pharmazeutische Betreuung nierentransplantierter Patienten in einem Betreuungsteam bestehend aus den drei Apothekerinnen Sandra Gerlach, Katja Weber und Susanne Schwickert. Das Team hält auch Vorträge bei Fortbildungsveranstaltungen für Apotheker und Ärzte.