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Telemedizin

Visite aus der Ferne

Datum 14.11.2007  16:15 Uhr

Telemedizin

<typohead type="3">Visite aus der Ferne

Von Bettina Sauer, Berlin

 

Neue Techniken machen vieles möglich: Vom sekundenschnellen Versenden von Röntgenbildern bis hin zur Fernüberwachung chronisch kranker Patienten. Schillernde Beispiele für virtuelle Arzt-Arzt- oder Arzt-Patienten-Gespräche gab es auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin in Berlin.

 

Zeit ist Hirn, lautet die Devise bei Schlaganfall. Denn jede Sekunde Verzögerung bis zur richtigen Diagnose und Therapie vergrößert die Schädigung des Nervengewebes. Auch für Michael M. läuft die Zeit. Um 22.10 Uhr kann er seine linke Körperhälfte nicht mehr richtig bewegen. Um 22.30 ruft er den Notarzt, um 23.15 erreicht er per Rettungswagen die nächstgelegene Klinik. Er wird ärztlich untersucht und um 23.35 in den Computertomografen geschoben. Allerdings befindet er sich in einer kleinen, nicht auf Schlaganfälle spezialisierten Klinik in der Provinz. Die Ärzte verfügen über wenig Erfahrung in der Deutung von M.s Symptomen und Hirnaufnahmen. Doch ihn zur nächsten Klinik mit »Stroke Unit«, einer Spezialstation für Schlaganfälle, zu transportieren, würde mehrere Stunden kosten.

 

Also kommen die Neurologen aus der Stroke Unit des Helios-Klinikums in Aue zu M., zumindest virtuell. Möglich macht das die Telemedizin. Unter diesem Begriff sammelt sich eine wachsende Zahl von Verfahren, um medizinische Daten mithilfe von Telekommunikationstechniken über große Distanzen zu übertragen. Um 23.55 Uhr wird eine Art Videogerät mit Lautsprechern und anderem technischen Zubehör zu M. in die Notaufnahme gerollt. Auf dem Bildschirm erscheint der diensthabende Neurologe in Aue, der selbst gleich vor drei Bildschirmen sitzt. Auf dem ersten kann er die Computertomografie-Hirnaufnahmen begutachten, auf dem zweiten Zusatzinformationen ablesen. Und auf dem dritten sieht er den Patienten. Er befragt ihn zu seinem Zustand, lässt ihn die Arme heben und andere Bewegungen vorführen und berät sich per Videokonferenz mit den Ärzten am Ort.

 

Um 0.10 Uhr stehen Ferndiagnose und Therapie. Gemäß dieser Vorgaben wird um 0.30 Uhr die Thrombolyse eingeleitet. M. bekommt eine enzymhaltige Infusion, mit der sich Blutgerinnsel im Gehirn auflösen lassen. Um 0.45 Uhr bessern sich seine Symptome. Er muss nicht mehr in eine Spezialklinik verlegt werden und kommt nahezu ohne Folgeschäden davon.

 

Das anonymisierte Beispiel stellte der Chefarzt der Klinik für Neurologie des Helios-Klinikums in Aue, Dr. Guntram Ickenstein, auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin Anfang November in Berlin vor. »Eine Thrombolyse verspricht nur innerhalb von drei Stunden nach Auftreten der ersten Symptome Erfolg«, sagte Ickenstein. »Es ist äußert fraglich, ob sie ohne die Expertise der Stroke Unit rechtzeitig eingeleitet worden wäre.« Ickenstein ist Projektleiter von Helios-Neuronet. »Wir haben alle unsere Kliniken gewissermaßen mit mobilen Stroke Units ausgestattet«, sagte er. »Über diese telemedizinische Schaltung können die Kliniken 24 Stunden am Tag Kontakt mit unseren Expertenzentren in Aue, Wuppertal, Erfurt und Berlin-Buch aufnehmen.« 86 dieser virtuellen Konferenzen oder »Telekonsile« und neun »Telethrombolysen« fanden seinen Worten zufolge im letzten halben Jahr statt. »Neuronet verbessert die Erstversorgung in nicht auf Schlaganfälle spezialisierten Kliniken, ermöglicht eine einheitliche Dokumentation und die Überwachung der Patienten über 72 Stunden.«

 

Als weiteres Netzwerk nannte er das »Telemedizinische Pilotprojekt zur integrierten Schlaganfallversorgung« (Tempis). Darin haben sich mittlerweile 14 bayerische Kliniken mit den Schlaganfallzentren in München Harlaching und der Universität Regensburg zusammengeschlossen. Mehr als 11.000 Telekonsile und 600 Telethrombolysen fanden nach Angaben der Projektkoordinatoren von Anfang 2003 bis Mai 2007 statt. Das entspreche einer Verzehnfachung der vorher erreichten Thrombolyse-Rate. Zudem belege ein im letzten Jahr im Fachjournal »Lancet Neurology« veröffentlichter Vergleich über drei Monate, dass in fünf TEMPiS-Kooperationskliniken 10 Prozent weniger Todesfälle, Pflegeheimeinweisungen und schwere Behinderungen auftraten als in fünf Kliniken derselben Region ohne Netzwerkanbindung.

 

Auf dem Kongress wurden auch andere Einsatzgebiete in Kliniken vorgestellt. Getreu dem Motto »Lasst Daten wandern, nicht Patienten« haben sich etwa Kliniken der Region Vorpommern im Jahr 2003 zu einem telemedizinischen Tumornetzwerk zusammengeschlossen. Das berichtete Professor Dr. Norbert Hosten, Direktor des Instituts für Radiologie der Universitätsklinik Greifswald. Im Zuge von »Teleradiologie« und »Telepathologie« verschicken die Ärzte nun Röntgen-, mikroskopische und weitere Aufnahmen, in »Telekonferenzen« tauschen sie sich über Befunde und Diagnosen aus. »Unser Leuchtturmprojekt ist die Telemammografie«, sagte Hosten. »Während anderswo die Röntgenbilder für die gesetzlich vorgeschriebene Zweitbefundung von Klinik zu Klinik gefahren werden, versenden wir sie einfach innerhalb unseres Netzwerkes.«

 

»Doc2Patient«

 

Bei den bisher genannten Beispielen handelt es sich um »Doc2Doc«-Telemedizin von Ärzten untereinander. Aber auch in direkter Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Patienten kommt sie zum Einsatz, als sogenannte »Doc2Patient«-Telemedizin. Dazu zählt in erster Linie das Telemonitoring. Dabei bekommen Patienten mit chronischen Krankheiten Geräte, um kritische Körperfunktionen zu messen und die Daten direkt an Haus- oder Fachärzte oder andere medizinische Betreuer zu übermitteln. »Bedeutsam ist Telemonitoring für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Risikofaktoren wie Diabetes«, sagte Oberarzt Dr. Friedrich Köhler, der an der Charité Universitätsmedizin Berlin selbst auf diesem Gebiet forscht, beim Kongress. »Diese Krankheiten betreffen eine große und im Zuge des demografischen Wandels steigende Zahl von Patienten und können lebensbedrohliche Folgeschäden verursachen.« Die in Telemonitoring gesetzten Hoffungen reichten weit: Von einer besseren Lebensqualität und Therapietreue der Patienten bis hin zur Verringerung der Notarzteinsätze, Klinikaufenthalte, Operationen, selbst der Sterblichkeit. »Was den Patienten nützt«, sagte Köhler, »könnte zudem das Gesundheitssystem entlasten und einen erheblichen Wirtschaftsfaktor bilden.«

 

Entsprechend viele Firmen und Forschungseinrichtungen entwickeln bereits telemedizinische High-Tech-Geräte, mit denen sich Körperfunktionen über Hunderte von Kilometern beobachten lassen. Selbst in T-Shirts sind schon Sender samt Messfühler für Blutdruck und Herzrhythmus eingewebt. »Doch überstehen viele dieser Projekte die Pilotphase nicht«, schränkte Köhler ein. Zudem gebe es zwar schon Befragungen und Studien mit positiven Ergebnissen - doch meist mit zu kleinen Teilnehmerzahlen, zu kurzen Untersuchungszeiträumen oder zu ungenauen Zielen und Messpunkten, um die Begutachtung für international renommierte Fachjournals zu bestehen.

 

An diesem Punkt will Köhler Klarheit schaffen. Sein Team hat mit Industriepartnern ein telemedizinisches Frühwarnsystem für Herzinsuffizienz  entwickelt. Nun wollen es die Wissenschaftler in einer zwölfmonatigen klinischen Studie an 475 Patienten überprüfen. »Herzinsuffizienz«, sagte Köhler, »eignet sich besonders gut für die telemedizinische Betreuung und hat sogar für die ganze Sparte gewissermaßen Modellcharakter.« Denn die derzeit etwa 1,5 Millionen Betroffenen geraten relativ oft in lebensbedrohliche Krisen, deren Vorboten sich jedoch gut messen ließen. So führt etwa die nachlassende Pumpleistung des Herzens zu Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe, die sich als Gewichtszunahme bemerkbar machen.

 

Deshalb erhält etwas mehr als die Hälfte von Köhlers Studienteilnehmern eine sehr präzise Waage, auf die sie jeden Morgen steigen sollen. Hinzu kommen ein Blutdruckmessgerät mit Oberarmmanschette, ein Messfühler für die Sauerstoffsättigung des Blutes, und ein Gerät, mit dem sie gleich morgens im Bett ein Elektrokardiogramm aufzeichnen, also den Herzrhythmus bestimmen sollen. »Das ganze Prozedere dauert ungefähr so lang wie zweimal Zähneputzen«, sagte Köhler. »Die Daten gelangen verschlüsselt in zwei telemedizinische Zentren, teils nach Stuttgart, teils hier zu uns nach Berlin«, sagte Dr. Stephanie Lücke, die im Projekt für die Patientenschulung und -betreuung zuständig ist, im Gespräch mit der PZ.

 

Nach einigen letzten technischen Tests und Feldversuchen soll die Studie Anfang 2008 starten. Dann werden rund um die Uhr Ärzte und Pflegekräfte in den telemedizinischen Zentren vor den Computerbildschirmen sitzen und alle neu ankommenden Daten der Versuchsteilnehmer kontrollieren. »Stimmt etwas nicht«, sagte Lücke, »informieren wir den Hausarzt oder rufen den Patienten an, damit er beispielsweise die Dosis seiner Medikamente erhöht. Im Ernstfall schicken wir direkt einen Notarzt los.« Zum Zweck der Langzeitüberwachung sollen außerdem alle Messwerte in eine elektronische Patientenakte einfließen. »Auch haus- und fachärztliche Befunde können wir einpflegen«, sagte Lücke, »bis hin zu Ultraschallbildern.«

 

Köhlers Team will unter anderem überprüfen, ob Telemedizin bei Herzinsuffizienzpatienten die Sterblichkeit und die Zeit im Krankenhaus reduzieren kann. Damit steht es in der Tradition einer Studie, die Dr. John Cleland von der Universität im britischen Hull und seine Kollegen 2005 im »Journal of the American College of Cardiology« veröffentlichten. Diese zeigten an 426 Patienten mit Herzinsuffizienz aus Deutschland, Großbritannien und Dänemark unter anderem eine Verringerung der Sterblichkeit durch Telemedizin. »Doch sind die Ergebnisse nicht eindeutig«, sagte Lücke. »Zudem zitieren Experten als Wirksamkeitsbeleg der Telemedizin immer nur diese eine Studie. Deshalb ist es wichtig, weitere Daten zu liefern.« Köhler sagte: »Schon in der Vorbereitungsphase sind uns Aspekte aufgefallen, die beim Umgang mit Telemedizin unbedingt zu berücksichtigen sind.« Vor allem der Datenschutz. »Gesundheitswerte, die kilometerweit durch die Gegend fliegen, müssen  hochverschlüsselt und vor Manipulationen geschützt sein. Sie sind nur für das zuständige medizinische Personal bestimmt, aber nicht etwa für Hobbyfunker in der Nachbarschaft des Patienten.« Auch müssten dringend rechtliche Rahmenbedingungen für die Telemedizin geschaffen werden. Was etwa soll ein telemedizinischer Betreuer tun, wenn er ärztliche Fehler seitens seiner Kollegen entdeckt? Muss er sie belehren oder gar anzeigen? »Vor allem aber darf Telemedizin nie ein Argument sein, medizinische Einrichtungen einzusparen«, sagte Köhler. Das gilt nicht nur für das Telemonitoring, sondern auch für die Kliniken. Erst im August warnte die Deutsche Schlaganfallgesellschaft davor, zu große Hoffnungen in die Telemedizin zu setzen, und forderte die Einrichtung weiterer Stroke Units. Dem widersprach keiner der Experten auf dem Kongress, dessen Fazit lautete: Dr. telemed. soll im größeren Maße als bisher Patienten betreuen, aber immer im Team mit dem echten Arzt am Ort.

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