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Mikrobiom-Forschung

Das andere Genom

Datum 22.10.2014  07:36 Uhr

Von Iris Hinneburg, Leipzig / Jeder Mensch trägt mehr als ein Kilogramm fremder Biomasse mit sich herum: das Mikrobiom. Diese Lebewesen beeinflussen die Funktionen des menschlichen Organismus in beträchtlichem Ausmaß und haben auch medizinische Bedeutung.

Der Mensch teilt seinen Körper mit verschiedenen Bakterien, Viren, Pilzen und Parasiten. Diese Mikroorganismen sind nicht nur an der Entstehung von Krankheiten beteiligt, sondern spielen auch für Physiologie des Menschen eine wichtige Rolle. Neue Erkenntnisse und Entwicklungen bei der Mikrobiom-Forschung diskutierten Experten Mitte September beim Kongress für Viszeralmedizin in Leipzig.

 

»Wir tragen in uns und auf uns stabile Ökosysteme«, betonte Professor Dr. Philip Rosenstiel, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie der Universität Kiel, und wies darauf hin, dass derzeit vor allem die Rolle verschiedener Bakterien erforscht wird. »Protozoen und Viren haben wir bisher fast nicht charakterisiert«. Das Mikrobiom, das sich an verschiedenen inneren und äußeren Oberflächen findet, ist an verschiedenen Prozessen im Körper beteiligt, etwa dem Aufschließen von Nahrungsbestandteilen oder immunologischen Funktionen wie dem Schutz vor Infektionen. Die Bedeutung der Mitbewohner lässt sich aber auch schon an den bloßen Zahlen erkennen: »Im Körper sind fast zehnmal mehr Bakterien, als wir Körperzellen besitzen«, so Rosenstiel. Auch enthalte »das andere Genom« hundertmal mehr genetische Informationen als das Erbgut des Menschen.

 

Vielfalt im Darm

 

Am besten untersucht ist bisher das Darmmikrobiom. Es besteht aus einer größeren Anzahl von Bakteriengattungen, von denen Firmicutes und Bacteroidetes die wichtigsten Gruppen bilden. Intraindividuell kann die Zusammensetzung der bakteriellen Flora deutlich variieren. Allerdings haben Wissenschaftler sogenannte Enterotypen identifiziert, bei denen jeweils eine bestimmte Bakteriengattung im Darmmikrobiom vorherrscht. Wie Studien gezeigt haben, lässt sich die Zusammensetzung des Mikrobioms über die Ernährung beeinflussen. Fachleute untersuchen derzeit einen möglichen Zusammenhang mit dem Risiko für bestimmte Krankheiten, etwa chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Diskutiert wird etwa der Einfluss einer Dysbiose, wenn der Anteil protektiver Bakterien im Darm verringert ist. Zwar gebe es Studien, die eine Assoziation zwischen Risikogenen etwa für Morbus Crohn und der Zusammensetzung des Mikrobioms zeigten, doch sei man von der Verwendung der Enterotypen als Biomarker für bestimmte Erkrankungen noch weit entfernt, so Rosenstiel.

 

Wie Professor Dr. Jan Wehkamp vom Universitätsklinikum Tübingen ausführte, ist die Zusammensetzung des Mikrobioms an den verschiedenen Körperoberflächen streng kontrolliert: »Nicht nur im Darm, genauso im Vaginaltrakt, in der Lunge und in der Haut«. Daran sind antimikrobielle Peptide beteiligt, die der Körper produziert. Diese auch Defensine genannten Substanzen sorgen etwa dafür, dass sich Darmkeime wie Escherichia coli nicht auf der Haut ansiedeln können. Die jeweiligen Wirkungsmechanismen sind sehr komplex: Einige Defensine töten bestimmte Bakterien direkt ab, andere dagegen werden erst unter bestimmten Bedingungen aktiviert oder bilden Netze aus, in denen sich Bakterien verfangen können. Eine klinische Anwendung dieser Erkenntnisse steht jedoch noch aus: »Therapeutisch haben wir hier bisher nicht viel«, so Wehkamp.

 

Einfluss auf das Immunsystem

 

In den letzten Jahren wurden auch weitere Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom, immunologischen Funktionen und Infektionen entdeckt. »Das beste Beispiel sind Infektionen mit Clostridium difficile, die erst auftreten, wenn das Mikrobiom in seiner Diversität ausgedünnt wird«, erklärte Professor Dr. Andreas Diefenbach, Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universitätsmedizin Mainz. Allerdings wirkt das Mikrobiom auch über die Ebene der Schleimhäute hinaus. So wurde in Tierversuchen festgestellt, dass Mäuse ohne Darmmikrobiom bei einer Infektion deutlich weniger Zytokine ausschütten. Wie Diefenbach ausführte, spielen dabei vermutlich epigenetische Prozesse eine wichtige Rolle.

 

Übertragung schon in der Schwangerschaft

 

Während sich viele Aspekte der Mikrobiom-Forschung bisher erst im Labor abspielen, lassen sich in anderen Gebieten bereits klinisch relevante Erkenntnisse verzeichnen, wie Professor Dr. Daniel Baumgart von der Humboldt-Universität, Berlin, erläuterte. So dominierte etwa bis vor Kurzem die Überzeugung, dass die Besiedelung des Körpers mit dem Mikrobiom erst im Geburtskanal durch Übertragung von mütterlichen Keimen einsetzt. 

Die Erkenntnisse haben sich inzwischen erweitert: »Bereits während der Schwangerschaft treten Veränderungen im Mikrobiom auf«, erläuterte Baumgart. Man weiß inzwischen, dass sich das mütterliche Mikrobiom über das Blut und die Plazenta auf das ungeborene Kind überträgt. Forscher haben außerdem einen Einfluss des Geburtsmodus (vaginale Entbindung oder Kaiserschnitt) auf das kindliche Mikrobiom und die zelluläre Immunabwehr beobachtet.

 

Veränderungen des Mikrobioms zeigen sich auch im fortgeschrittenen Lebensalter. »Darauf ist wahrscheinlich zurückzuführen, dass ältere Menschen häufiger an Clostridium-difficile-Infektionen erkranken«, so Baumgart. Daneben haben aber auch medizinische Interventionen Einfluss auf das Mikrobiom. So ist etwa bekannt, dass besonders Breitband-Antibiotika wie Ciprofloxacin die Anzahl und Vielfalt der Darmbakterien reduzieren, sodass die Abwehr gegen pathogene Keime sinkt. Ein ähnlicher Einfluss lässt sich auch bei Medikamenten nachweisen, die zur Behandlung von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt werden, etwa Steroiden, Mesalazin und Immunsuppressiva.

 

Zusammenhänge mit dem Mikrobiom wurden auch bei der Pathogenese von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gefunden. Bei Colitis ulcerosa ist die Zusammensetzung der Darmbakterien so verändert, dass bei der Fermentation wenig kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat oder Propionat produziert werden. Dadurch wird die Aktivierung von T-Zellen weniger stark gehemmt, woraus eine überschießende Entzündungsreaktion resultiert.

 

Daneben mehren sich aber auch die Hinweise, dass das Mikrobiom Stoffwechselprozesse beeinflusst. So zeigte Baumgart Studienergebnisse, nach denen die Verstoffwechselung von Nahrungslecithin von der Zusammensetzung der Darmbakterien abhängt. Bei manchen Varianten entsteht dann ein Metabolit mit atherogenen Eigenschaften. »Kardiovaskuläre Risiken könnten über diesen Mechanismus gesteuert werden«, erläuterte Baumgart. Auch andere metabolische Vorgänge werden durch die Bakterien gelenkt: So hat sich im Tierversuch gezeigt, dass ursprünglich keimfreie Mäuse, denen das Darmmikrobiom adipöser Menschen eingepflanzt wurde, Übergewicht entwickelten.

 

Kein Allheilmittel

 

In den letzten Jahren kommt die Fäkaltransplantation zur Therapie von chronischen Clostridium-difficile-Infektionen zunehmend häufiger zum Einsatz. Dabei erhält der Patient eine in Kochsalzlösung oder Milch aufgeschwemmte Stuhlsuspension eines gesunden Spenders über eine Magensonde oder per Einlauf. Einer neuen Studie zufolge ist die Übertragung auch mithilfe von Kapseln möglich (lesen Sie hierzu Seite 40). Damit sollen Defizite des darmeigenen Mikrobioms ausgeglichen werden, sodass sich Clostridium difficile zurückdrängen lässt. Allerdings mahnte Baumgart vor zu großer Euphorie über die Therapieform und einem vereinfachten mechanistischen Verständnis: »Wenn wir jemandem Darmflora geben, schließen wir offensichtlich nicht nur die Lücken.« Hinzu komme, dass bei den üblicherweise vorgeschalteten Tests die Stuhlspende in der Regel nur auf pathogene Bakterien, nicht aber auf Viren und Pilze untersucht werde. Hier müssten die gleichen Standards angelegt werden wie bei anderen Arzneimitteln oder Medizinprodukten.

 

Besonders durch das Human Microbiome Project hat die Mikrobiom-Forschung in den letzten Jahren einen enormen Aufwind erfahren. Alle Referenten warnten jedoch davor, aus den Studienergebnissen verfrühte Schlussfolgerungen zu ziehen. »Aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge müssen wir noch genauer hinschauen als in der Vergangenheit«, forderte Baumgart. Besonders werden Ergebnisse aus Assoziationsstudien in den Publikumsmedien häufig als kausale Zusammenhänge dargestellt, was sich derzeit jedoch nicht belegen lässt. Deshalb sollte die Fachwelt die entsprechenden Studien immer mit einer Portion gesunder Skepsis betrachten. /

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