Schmerzkonzept in Dur und Moll |
18.10.2010 16:07 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek, Heidelberg / Kopfschmerzen und Migräne gehören zu den häufigsten Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberger Wissenschaftler setzen im Kampf gegen den Schmerz erfolgreich auf die Kraft der Klänge.
Die 13-jährige Miriam litt bereits seit Jahren täglich unter Kopfschmerzen, als sie sich hilfesuchend in der Ambulanz der Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hochschule Heidelberg vorstellte. An der Hochschule werden in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung und der Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg musiktherapeutische Konzepte zur Heilung kranker Menschen wissenschaftlich untersucht.
Über die Wirksamkeit von Musiktherapie liegen bereits erfolgversprechende Ergebnisse vor. Verschiedene Studien mit Erwachsenen konnten zeigen, dass sich mithilfe der klingenden Therapie die Schmerzen und häufig auftretende Begleitsymptome wie Angst und Depression verringern ließen. Bei einer Gruppe von acht- bis zwölfjährigen Kindern mit Migräne nahmen die Schmerzattacken signifikant ab, bei einigen verschwanden sie sogar ganz.
Die jungen Kopfschmerzpatienten an der Fakultät für Musiktherapie werden in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie außerdem ärztlich betreut. Hier werde sichergestellt, dass für die Beschwerden keine ernsthaften Grunderkrankungen vorliegen, sagt Beate Hubertus, Doktorandin an der Fakultät für Musiktherapie im Gespräch mit der PZ. Auch eine eventuelle Arzneimitteltherapie werde überwacht. »Viele Patienten nehmen ihre Schmerzmittel ganz falsch und vor allem viel zu spät ein«, weiß sie. Eine rein medikamentöse Behandlung lehnten aber die meisten auf Dauer sowieso ab. Deshalb seien multimodale Behandlungskonzepte sinnvoll, zu denen auch die interdisziplinär eingebundene Musiktherapie gehöre. Während bei der rezeptiven Therapie das Hören von Musik im Vordergrund steht, musiziert und improvisiert der Patient bei der aktiven Musiktherapie unter Anleitung des Therapeuten selbst. Unter anderem Trommeln, Klavier, Vibraphon oder ein Gong stehen ihm zur Verfügung, musikalische Vorkenntnisse braucht er nicht.
Kinder oder Erwachsene
Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Kopfschmerzen. Werden sie nicht früh genug und vor allem altersgerecht behandelt, ist eine »Schmerzkarriere« bis weit ins Erwachsenenalter vorprogrammiert. Vor diesem Hintergrund wandten sich die Heidelberger Forscher nun einer bisher eher vernachlässigten Patientengruppe mit Kopfschmerzen zu: Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren. »Eine Versorgungslücke in diesem Alter ist schon länger bekannt«, sagt Hubertus. Ärzte und Therapeuten ständen vor der Frage, ob die Heran- wachsenden eher wie Kinder oder doch schon wie Erwachsene behandelt werden müssten. Hinzu kommt: Selten werden körperliche Ursachen für die Schmerzen gefunden. Statt einer Diagnose hören die Jugendlichen den hilflosen Hinweis: »Sie werden wohl damit leben müssen«.
Alles dreht sich um den Schmerz
Miriam hatte wie viele ihrer Leidensgenossen schon einiges durchgemacht, bevor sie zu den Heidelberger Schmerzspezialisten kam. Schulwechsel aufgrund von Leistungsabfall und Mobbing, dazu eine Fülle therapeutischer Maßnahmen, die kaum halfen und keine Zeit mehr für Freizeit und Freunde ließen: Arzneimittel- und Physiotherapie, Homöopathie, Ernährungsumstellung, Bewegungstraining – ihr ganzes Leben drehte sich nur noch um den Schmerz. Wie viele Gleichaltrige tat sie sich schwer, ihr Leiden in Worte zu fassen.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft weist darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen Lebensstil und Kopfschmerzen gibt. Sie beruft sich auf kürzlich veröffentlichte Studien mit norwegischen und deutschen Jugendlichen, die zeigten, dass wiederkehrende Kopfschmerzen signifikant häufiger mit Übergewicht, geringen sportlichen Aktivitäten, Rauchen und dem Konsum von Alkohol einhergingen. Durch eine gesunde Lebensweise könne man offenbar Einfluss auf die Kopfschmerzen nehmen. Die genetische Vorbelastung spiele eine Rolle, sei aber nicht der einzige Faktor. Weitere Informationen unter www.dmkg.de.
Hierbei hilft die Musik als »emotionales Kommunikationsmittel«. Musiktherapie sei deshalb auch den rein sprachlich ausgerichteten psychotherapeutischen Behandlungsmethoden überlegen – speziell in dieser Lebensphase, ist Hubertus überzeugt. Stress abbauen, verborgene Gefühle zulassen: In Kombination mit speziellen Entspannungsmethoden und begleitenden Elterngesprächen hat die Musiktherapie vor allem die »Emotionsregulation« der Jugendlichen zum Ziel. Die Patienten werden sensibler, spüren schneller, wann und wo der Schmerz sie überfällt, und lernen, frühzeitig etwas dagegen zu tun. Unterstützt werden sie durch ein Schmerztagebuch, das vor und nach der drei Monate dauernden Therapie geführt werden muss. »Wir wollen zeigen, dass die musiktherapeutische Behandlung die Symptome verringert, das Wohlbefinden verbessert, die Körperwahrnehmung und den Umgang mit Stress- und Konfliktsituationen trainiert und sogar das Schmerzgedächtnis unterbrechen kann«, fasst Hubertus die Ziele der Therapie zusammen.
Bei Miriam hat es funktioniert. Etwa halbiert hatten sich Häufigkeit und Stärke ihrer täglichen Kopfschmerzattacken bei der Untersuchung sechs Monate nach Therapieende. Das Mädchen ist nun in der Lage, Situationen zu erkennen, die ihr schaden und Konflikte offen anzusprechen und zu bewältigen. »Dem Schmerz die Grundlage nehmen«, nennt es Hubertus.
Wer sich über Musiktherapie informieren will, hat am 29. und 30. Oktober 2010 Gelegenheit dazu. Dann feiert die Fakultät für Musiktherapie in Heidelberg ihr 30-jähriges Bestehen mit verschiedenen Vorträgen und Workshops zum Thema. Informationen: Professor. Dr. Alexander F. Wormit, E-Mail: fbmth(at)fh-heidelberg.de. /
Die wissenschaftliche Überprüfung des musiktherapeutischen Behandlungskonzepts geht weiter. Deshalb sucht die Fakultät für Musiktherapie Probanden im Alter von 12 bis 17 Jahren, die seit mindestens sechs Monaten unter regelmäßigen Kopfschmerzen leiden. Die Teilnehmer erhalten kostenfrei jeweils zwölf Therapieeinheiten und werden während der Studie ärztlich und medizinpsychologisch betreut. Informationen unter Telefon: 06221 88-4150, www.fh-heidelberg.de.