Sichere Arzneitherapie bei Kindern |
26.07.2011 13:52 Uhr |
Von Iris Hinneburg / Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene. Deshalb gibt es auch bei der Pharmakotherapie einige Besonderheiten zu beachten. Das betrifft nicht nur die Auswahl und Dosierung der Arzneimittel, sondern auch deren Anwendung.
Die Idee, dass die Arzneitherapie bei Erwachsenen nicht ohne Weiteres auf Kinder zu übertragen ist, wurde erstmals Ende des 15. Jahrhunderts systematisch verfolgt. Trotz des therapeutischen Fortschritts sind heute immer noch nicht alle Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, für diese Altersgruppe in klinischen Studien untersucht und zugelassen. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin betrifft das bis zu 70 Prozent der Arzneimittel, die im stationären Bereich verwendet werden. In der ambulanten Versorgung ist der »Off-Label-Use« weniger verbreitet, kommt aber je nach Indikation und Altersgruppe bei bis zu einem Drittel der Verordnungen vor.
Eine EU-Verordnung, die im Januar 2007 in Kraft getreten ist, soll diese Situation verbessern. Danach müssen Hersteller, die neue Arzneimittel auf den Markt bringen, mit wenigen Ausnahmen für die Zulassung auch pädiatrische Studien vorlegen. Als Anreiz verlängert sich für die geprüften Präparate der Patentschutz um sechs Monate. Für Arzneimittel, die beim Inkrafttreten der Verordnung bereits auf dem Markt waren, können Hersteller Zulassungen für die Anwendung bei Kindern beantragen. Für die Jahre 2010 und 2011 meldet der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller 21 neue Arzneimittel, die explizit für Kinder zugelassen sind. Kinderärzte kritisieren jedoch, dass immer noch zu wenige Studien Kinder und Jugendliche einschließen. Hilfreich für die Apothekenpraxis ist die ZAK (Zugelassene Arzneimittel für Kinder)-Datenbank, die die Recherche nach zugelassenen Wirkstoffen für bestimmte Indikationen erleichtert. Dabei ist auch eine Auswahl nach Altersgruppe und Darreichungsformen möglich (www.zak-kinderarzneimittel.de).
Besondere Pharmakokinetik
Viele Arzneistoffe zeigen bei Kindern eine andere Pharmakokinetik als bei Erwachsenen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die physiologischen Verhältnisse auch bei den verschiedenen pädiatrischen Altersklassen unterscheiden (siehe Kasten). So reagiert etwa der Magensaft bei Neugeborenen mit einem pH-Wert von 4 deutlich weniger sauer als der von Erwachsenen. Das kann die Stabilität und Ionisierung von Arzneistoffen beeinflussen und damit auch die Bioverfügbarkeit. Über die Haut werden Arzneistoffe bei Kindern besser resorbiert als bei Erwachsenen. Daran sind sowohl das dünnere Stratum corneum beteiligt als auch die im Verhältnis zum Körpergewicht größere Körperoberfläche. Daraus ergeben sich unter anderem Konsequenzen für die topische Therapie, etwa bei Glucocorticoiden.
Für die Verteilung von Arzneistoffen ist es bedeutsam, dass sich im ersten Lebensjahr das Verhältnis von Wasser- und Fettanteil im Körper kontinuierlich verändert. In den ersten Lebensmonaten ist auch die Blut-Hirn-Schranke noch nicht vollständig ausgebildet, sodass Arzneistoffe stärker ZNS-wirksam sind. Die Metabolisierung von Arzneistoffen wird entscheidend durch die Entwicklung der CYP-Enzyme beeinflusst, die unterschiedlich schnell an Aktivität gewinnen: So ist beispielsweise CYP2C9 innerhalb der ersten Tage nach der Geburt einsatzbereit, während für CYP1A2 am ersten Geburtstag erst die Hälfte der Aktivität eines Erwachsenen erreicht ist. Die Niere muss reifen und hat erst um den ersten Geburtstag die Ausscheidungskapazität von Erwachsenen erreicht. In manchen Fällen übersteigt sie diese sogar.
Während relativ viele Erkenntnisse zur Pharmakokinetik bei Kindern vorliegen, ist die spezielle Pharmakodynamik wesentlich schlechter erforscht. Man weiß aber beispielsweise, dass die Blutgerinnung von Kindern empfindlicher auf die gleichen Warfarin-Plasmaspiegel reagiert, als es bei Erwachsenen der Fall ist. Die Beispiele machen deutlich, dass eine Extrapolation der Erwachsenendosis anhand von Körperoberfläche oder -gewicht nicht in allen Fällen für eine wirksame und sichere Pharmakotherapie ausreicht. Deshalb ist es wichtig, die entsprechenden pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Daten in Studien zu ermitteln.
Neben dem Wirkstoff macht bekanntlich auch die Darreichungsform das Arzneimittel. Und die muss sich bei Kindern in der Regel von der für Erwachsene unterscheiden. Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder meist erst ab dem Schulalter Tabletten und andere feste Darreichungsformen schlucken können. Deshalb spielt für die pädiatrische Arzneitherapie auch die Kapselherstellung in der Rezeptur eine wichtige Rolle. Die Eltern können die Kapseln öffnen und den Inhalt mit Flüssigkeit auf einem Löffel verabreichen.
Fertigarzneimittel sind meist als flüssige Peroralia formuliert. Bei Säften kann aber ein schlechter oder unbeliebter Geschmack Kinder davon abhalten, ihr Arzneimittel problemlos einzunehmen. Wenn Säfte an Eltern abgegeben werden, sollte in der Apotheke deshalb ein Hinweis auf die Geschmacksrichtung nicht fehlen – so lässt sich verhindern, dass etwa ein Antibiotikum mit Bananengeschmack zu Kämpfen bei der Einnahme führt. Antibiotika-Trockensäfte, die erst noch mit Wasser zubereitet werden müssen, machen Eltern gelegentlich Probleme. Bei der Abgabe sollte daher immer nachgefragt werden, ob die Zubereitung bekannt ist. Unter Umständen kann die fertige Lösung auch in der Apotheke hergestellt werden. Besonders bei Babys können auch Suppositorien die Verabreichung von Arzneimitteln erleichtern. Ältere Kinder finden die rektale Applikation dagegen häufig unangenehm.
Auch wenn die Anwendung von Arzneimitteln für pharmazeutische Fachleute ganz selbstverständlich ist: Für viele Kunden erschließt sie sich nicht von selbst. Bei Eltern mit kranken Kindern kommt häufig erschwerend hinzu, dass sie sich um ihre Kinder sorgen und deshalb nicht ausführlich den Beipackzettel studieren. Umso wichtiger sind Hinweise zur sicheren Anwendung bei der Beratung.
Dazu gehört beispielsweise die richtige Dosierung von Säften. Viele Substanzen werden nach Körpergewicht beziehungsweise Alter dosiert. Eltern können sich mit einem quengelnden Kind zu Hause schneller über die richtige Menge orientieren, wenn Apotheker und PTA in der Apotheke auf der Packung die jeweilige Menge vermerken oder markieren. Dabei sollten möglichst keine Abkürzungen verwendet werden, um Über- oder Unterdosierungen zu vermeiden. Beispielsweise ist die Angabe »ML« nicht eindeutig: Heißt es »Milliliter« oder »Messlöffel«? Wichtig ist auch ein Hinweis, wenn zwischen zwei Arzneimittelgaben ein bestimmter zeitlicher Abstand einzuhalten ist, etwa bei Paracetamol. In Haushalten mit mehreren Kindern verschiedenen Alters kann es sinnvoll sein, den Namen des Kindes auf der Packung zu vermerken. So lässt sich verhindern, dass der kleine Bruder die Fieberzäpfchen bekommt, die eigentlich für seine große Schwester bestimmt waren.
Für die Applikation von Säften und anderen flüssigen Peroralia sollten Eltern unbedingt die beigefügten Applikationshilfen benutzen und nicht mit Löffeln aus dem Haushalt abmessen. Dosierspritzen, die immer mehr Peroralia beiliegen, erlauben eine genauere Dosierung als Dosierlöffel oder -becher. Bei der Applikation sollten Eltern den Saft in die Wangentasche hinter die Backenzähne spritzen, um einen Würgereiz zu vermeiden. Bei Säuglingen können flüssige Arzneiformen auch mit einem Medikamentenschnuller verabreicht werden, der mit dem jeweiligen Arzneimittel gefüllt wird. Flüssige Peroralia sind in der Regel nur eine bestimmte Zeit nach Anbruch verwendbar. Bei Arzneimitteln, die sofort verwendet werden, kann bereits im Beratungsgespräch das Anbruchdatum beziehungsweise das Haltbarkeitsdatum auf der Packung vermerkt werden. Wenn Säfte im Kühlschrank aufbewahrt werden müssen, ist ebenfalls ein entsprechender Hinweis an die Eltern notwendig.
Die europäische Zulassungsbehörde EMA teilt Kinder und Jugendliche in fünf verschiedene Altersgruppen ein:
Frühgeborene: vor der 36. Schwangerschaftswoche
Neugeborene: 0-27 Tage
Säuglinge und Kleinkinder: 28 Tage bis 23 Monate
Kinder: 2-11 Jahre
Jugendliche: 12-17 Jahre
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) differenziert in der Altersgruppe »Kinder« zusätzlich zwischen Vorschulkindern (2-5 Jahre) und Schulkindern (6-11 Jahre). Die ZAK-Datenbank übernimmt diese Einteilung und unterscheidet außerdem Säuglinge (28 Tage bis 11 Monate) und Kleinkinder (12 bis 23 Monate).
Auch bei Arzneimitteln, die mit Getränken oder Nahrungsmitteln gemischt werden sollen, sind erläuternde Hinweise wichtig: So sollte das Medikament nie in die gesamte Mahlzeit eingerührt werden, damit das Kind die verordnete Arzneistoffmenge komplett einnimmt, auch wenn der Brei nicht vollständig aufgegessen wird. Und nicht jeder Wirkstoff verträgt die Mischung mit Milch oder bestimmten Fruchtsäften.
Grenzen der Selbstmedikation
Ob bei einem Kind eine Selbstmedikation möglich oder doch ein Arztbesuch sinnvoller ist, hängt von mehreren Faktoren ab. So sollten Eltern mit erkrankten Säuglingen sofort zum Arzt geschickt werden. Bei älteren Kindern kann hohes Fieber, das mehrere Tage andauert oder mit Hautausschlägen einhergeht, einen Arztbesuch notwendig machen. Das gilt natürlich auch bei akuten schwerwiegenden Symptomen wie Krämpfen oder Schmerzen und wenn scheinbare Bagetellbeschwerden sich verschlechtern. Aufmerksamkeit ist auch bei konkreten Präparatewünschen gefragt. Einige gängige OTC-Arzneimittel sind bei Kindern kontraindiziert beziehungsweise nicht für die Selbstmedikation zugelassen. Bekanntestes Beispiel ist ASS, das bei Kindern das gefürchtete Reye-Syndrom auslösen kann. Loperamid ist bei Kindern unter zwei Jahren ZNS-gängig und führt zu unerwünschten zentralen Arzneimittelwirkungen. Bronchialbalsame mit Menthol oder Kampfer dürfen wegen der Gefahr eines Kehlkopfkrampfes bei Säuglingen nicht eingesetzt werden. Zur guten Beratungspraxis gehört deshalb auch immer die Frage, bei wem das Präparat angewendet werden soll und wie alt das betreffende Kind ist. /