Wie Arzneistoffe die Barriere überwinden |
10.07.2018 08:57 Uhr |
Von Gert Fricker / Die Blut-Hirn-Schranke trennt den Blutkreislauf vom zentralen Nervensystem und ist außer für einige Nährstoffe des Gehirns praktisch undurchdringbar. Die meisten Medikamente können diese Barriere nicht überwinden. Daher ist die Behandlung von ZNS-Erkrankungen eine der größten Herausforderungen der modernen Medizin. Doch es gibt neue Konzepte.
Die Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke sind extrem dicht miteinander verknüpft. Zudem wird eine ganze Batterie von Abwehrproteinen exprimiert, die unerwünschte Eindringlinge abwehren. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich intensiv mit neuen Möglichkeiten, die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke zu beeinflussen, und entwickelt innovative Darreichungssysteme, mit deren Hilfe Medikamente besser ins Gehirn transportiert werden können.
Noch besser als die Walnuss: Das Gehirn schützt sich nicht nur vor äußeren potenziellen Schadeinwirkungen, sondern auch nach innen durch die Blut-Hirn-Schranke.
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Anatomie der Blut-Hirn-Schranke
Sechshundert Kilometer – das entspricht ungefähr der Luftlinie zwischen Karlsruhe und Kiel – umfasst das System der Kapillargefäße, die das Gehirn durchziehen. Sie sind von außerordentlicher Bedeutung für die sichere Funktion des zentralen Nervensystems, versorgen das Denkorgan mit Nährstoffen und schotten es gleichzeitig vor Fremdstoffen, einschließlich vielen Pharmaka, möglicherweise toxischen Metaboliten und Krankheitserregern ab. Gleichzeitig schützen sie die Zellen des Gehirns vor schwankenden Konzentrationen an Hormonen und Neurotransmittern sowie vor Änderungen des pH-Werts des Bluts.
Rund 100 Milliarden Kapillaren durchziehen das Gehirn, ihr durchschnittlicher Abstand beträgt etwa 40 μm. Dabei werden unterschiedliche Hirnregionen unterschiedlich stark versorgt. Die Dichte an Kapillargefäßen ist in der Großhirnrinde mit 300 bis 800 Kapillarquerschnitten pro mm2 Gewebe am höchsten. Pro Minute fließen etwa 610 ml Blut durch diese Gefäße, wobei die mittlere Strömungsgeschwindigkeit bei 1 mm/s liegt.
Die Gefäßendothelzellen dieser Kapillaren sind durch extrem dichte Verschlussstücke, die sogenannten Tight Junctions oder Zonulae occludentes, miteinander verknüpft und bilden die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, die für die Behandlung von ZNS-Erkrankungen eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Unterstützt werden die Endothelzellen in ihrer Funktion durch die sie umgebende Basalmembran sowie Perizyten und Astrozyten, die auf der Außenseite der Kapillaren aufsitzen.
Die Basalmembran besteht aus Heparinsulfat-Proteoglycanen, Fibronectin, Kollagen Typ V, Laminin und anderen extrazellulären Matrixproteinen. Die genaue Funktion der darauf aufsitzenden Zellen ist noch nicht vollständig geklärt; möglicherweise geben sie Wachstumsfaktoren an die Endothelzellen ab. Man weiß, dass Astrozyten eine Reihe von Botenstoffen ausschütten, die die Durchlässigkeit des Endothels im Sekunden- bis Minutenbereich modulieren können. Außerdem produzieren sie einen Großteil des im Gehirn vorhandenen Cholesterols. Cholesterol kann die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren und muss daher lokal innerhalb des Gehirns synthetisiert werden.
Alle Wirbeltiere haben eine Blut-Hirn-Schranke und fast alle bilden eine endotheliale Barriere aus, bei der die Tight Junctions der Endothelien den wesentlichen Beitrag zur Barrierewirkung leisten. Lediglich bei Knorpelfischen, zu denen die Haie und Rochen gehören, sowie bei der Familie der Störe wird die Barrierewirkung der Blut-Hirn-Schranke durch die perivaskulären Astrozyten gewährleistet.
Erste Hinweise auf die Existenz der Schranke fand der deutsche Wissenschaftler Paul Ehrlich (1854 bis 1915), der 1885 Versuchstieren Farbstoffe injizierte, die das Körpergewebe blau färbten, Gehirn und Rückenmark aber aussparten. Sein Schüler Edwin Goldmann konnte in späteren, genau umgekehrten Experimenten das zentrale Nervensystem anfärben, nicht aber periphere Organe. Damals kannten die Wissenschaftler die Schranke noch nicht, aber in den 1960er-Jahren wurde sie mittels Elektronenmikroskopie eindeutig identifiziert und heute kennen wir sie recht gut. Bekannt ist, dass
Exportproteine in der Blut-Hirn-Schranke
Ein entscheidender Grund für die schlechte Gehirngängigkeit der meisten Wirkstoffe sind Exportproteine (ABC-Proteine, von ATP Binding Cassette Proteins), die in der luminalen, also der blutseitigen Membran der Kapillarendothelzellen exprimiert werden und dort wesentlich zum Schutz des Gehirns beitragen. Zu ihnen zählen das P-Glykoprotein, das Breast Cancer Resistance Protein und mehrere Vertreter der Multidrug Resistance Related Proteine (MRP).
Während »normale« Transportproteine in einer Membran meist sehr selektiv nur wenige Substrate erkennen, transportieren diese Proteine eine unglaublich große Zahl strukturell völlig verschiedener Substanzen (Tabelle). Man kann davon ausgehen, dass die Exportproteine im Lauf der Evolution als genereller Schutz gegenüber Fremdstoffen entwickelt wurden.
P-Glykoprotein (p-gp) ist der prominenteste Vertreter dieser Exportproteine. 1976 von Julian und Ling erstmals in Tumorzellen als Resistenzmechanismus beschrieben, wurde in den darauffolgenden Jahren zunehmend seine Bedeutung als Abwehr- und Ausscheidungsmechanismus in verschiedenen Barriere-Organen beschrieben. So findet man p-gp in den Gallenkapillarmembranen von Leberzellen, in proximalen Nierentubuluszellen, in den Enterozyten des Dünndarms, in der Blut-Plazenta-Schranke, wo es den Embryo vor toxischen Metaboliten im Mutterblut schützt, und eben auch in der Blut-Hirn-Schranke.
Wirkstoffklasse | Beispiele |
---|---|
Zytostatika | Vinblastin, Vincristin Doxorubicin, Daunorubicin, Mitomycin, Idarubicin, Etoposid, Teniposid, Paclitaxel, Methotrexat |
Corticoide | Dexamethason, Aldosteron, Hydrocortison, Corticosteron, Cortison |
HIV-Protease-Inhibitoren | Saquinavir, Amprenavir, Indinavir, Ritonavir, Nelfinavir |
Anthelminthika | Ivermectin, Abamectin |
Zytokine | IL-2, IL-4, IFN-γ |
Antidiarrhoika | Loperamid |
Opiate | Morphin |
Antiepileptika | Phenytoin, Carbamazepin, Lamotrigin, Phenobarbital, Felbamat, Gabapentin, Topiramat |
Gichtmedikamente | Colchicin |
Herzglykoside | Digoxin |
Immunsuppressiva | Cyclosporin A, Rapamycin, Everolimus, Tacrolimus, Sirolimus |
Histamin H2-Rezeptor-Antagonisten | Cimetidin |
Histamin H1-Rezeptor-Antagonisten | Fexofenadin, Terfenadin |
Betarezeptorenblocker | Carvedilol, Celiprolol, Talinolol |
Calciumantagonisten | Verapamil, Diltiazem, Nicardipin |
Antiemetika | Domperidon, Ondansetron |
Antipsychotika | Chlorpromazin, Pimozid, Fluphenazin, Reserpin, Triflupromazin |
Antibiotika | Erythromycin, Valinomycin, Tetracycline, Fluorchinolone |
Antidepressiva | Imipramin, Amitriptylin, Nortriptylin, Doxepin, Venlafaxin, Paroxetin |
Statine | Atorvastatin |
Es gibt bekannte Beispiele, die die Relevanz von p-gp belegen: 1987 wurde die Substanz Ivermectin, deren Entwicklung 2015 mit dem Nobelpreis für Medizin honoriert wurde, unter dem Namen Mectizan zur Behandlung der Parasitenerkrankung Flussblindheit zugelassen. Diese Erkrankung zählt zu den schlimmsten Infektionskrankheiten in den Ländern Zentralafrikas. Die Therapie erwies sich als außerordentlich erfolgreich, und das Medikament wurde Ärzten und Patienten in Entwicklungsländern kostenlos zur Verfügung gestellt. 1999 stellte der Molekularbiologe Alfred Schinkel vom Niederländischen Krebsinstitut in Amsterdam fest, dass genetisch veränderte Mäuse, bei denen das P-Glykoprotein ausgeschaltet war, an Ivermectin starben. Der Wirkstoff ist neurotoxisch und kann dann ins Gehirn eindringen, wenn p-gp nicht mehr als Abwehrprotein funktioniert.
Das Medikament und Abkömmlinge davon werden auch in der Tiermedizin gegen verschiedene Parasiten eingesetzt. Dabei machten Tierärzte die interessante Beobachtung, dass behandelte Collie-Hunde unter Koordinationsstörungen zu leiden begannen. Sie zeigten sich desorientiert, zitterten, erbrachen und starben bei höheren Dosierungen: alles Symptome einer starken Neurotoxizität. Wissenschaftler um Katrina Mealey von der amerikanischen Washington State University stellten 2001 fest, dass bestimmte Hunde – betroffen sind neben Collies auch Vertreter verwandter Rassen – einen Gendefekt des P-Glykoproteins aufweisen, wodurch dieses seine Exportfunktion verliert (1).
Im gleichen Jahr gelang Wissenschaftlern am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg in intaktem Kapillargewebe von Schweinehirnen der Nachweis, dass p-gp tatsächlich den eindringenden Wirkstoff aktiv aus den Kapillarendothelzellen zurück in den Blutkreislauf befördert (2).
Neuer Ansatz bei Glioblastomen
Diesem Hund darf man niemals Ivermectin geben – das kann tödlich enden.
Foto: Shutterstock/WilleeCole Photography
Bei bösartigen Hirntumoren, den Glioblastomen, spielen die an und für sich schützenden ABC-Proteine eine fatale Rolle. Sie lassen Zytostatika nicht durch die Blut-Hirn-Schranke und transportieren diese bei durchlässiger Schranke auch aus Tumorzellen wieder hinaus. Sie müssen also lahmgelegt werden (Abbildung 2).
Die Arbeitsgruppe in Heidelberg behandelte zusammen mit Wissenschaftlern der Universität Regensburg deshalb Ratten, denen ein humaner Tumor ins Gehirn implantiert war, mit dem Chemotherapeutikum Taxol. Die Therapie blieb erfolglos. Dann wurde das P-Glykoprotein mit einem Hemmstoff außer Gefecht gesetzt: Taxol erreichte danach nicht nur das Gehirn der Versuchstiere, sondern die Gehirntumoren sprachen auch signifikant besser auf das Zytostatikum an (3).
Erste klinische Studien sollen zeigen, ob sich die Hemmung des Exportproteins bei der Therapie von Glioblastomen des Menschen anwenden lässt. Zudem könnte dieses Prinzip auch bei anderen Krebserkrankungen erfolgreich sein, die Metastasen im Gehirn bilden, die aber wegen der Blut-Hirn-Schranke einer Chemotherapie kaum zugänglich sind.
P-Glykoprotein aktiviert, Amyloid reduziert
Es gibt auch Bemühungen, das p-gp in der Blut-Hirn-Schranke zu aktivieren. So weiß man, dass das Glykoprotein am Export von Amyloid-β-Peptid beteiligt ist, der Plaque-bildenden Komponente bei der Alzheimer-Demenz. Man hat beobachtet, dass bei Alzheimer-Patienten die Menge von p-gp in der Blut-Hirn-Schranke verringert ist. Einem Forscherteam an der University of Minnesota in Duluth (USA) gelang es 2010, das p-gp bei Mäusen derart hoch zu regulieren, dass tatsächlich mehr Beta-Amyloid aus dem Gehirn der Nager abtransportiert wurde.
Möglicherweise eröffnen sich damit neue Therapieoptionen für Patienten. So ließen sich beispielsweise mit dem Antibiotikum Rifampicin, das unter anderem die p-gp-Synthese induziert, die kognitiven Beeinträchtigungen von Alzheimer-Patienten messbar verbessern – möglicherweise auch deshalb, weil β-Amyloid dann vermehrt abtransportiert wurde (4).
Abbildung 2: A) Exkretion eines fluoreszenzmarkierten Substrats eines ABC-Transporters in das Lumen einer GehirnkapillareB) Hemmung der Exkretion durch vorherige Gabe eines spezi fischen Inhibitors
Fotos: AK Fricker
Phytos interagieren mit der Schranke
P-Glykoprotein und auch die anderen Exportproteine in der Blut-Hirn-Schranke unterliegen ebenso wie die metabolisierenden CytochromP450-Enzyme einer sehr komplexen Regulation durch verschiedene Signalkaskaden. Ihre Expression wird unter anderem durch Ligand-aktivierte Nuklearrezeptoren wie den Pregnan-X-Rezeptor (PXR) oder den Arylhydrocarbon-Rezeptor (AHR) hochreguliert.
Diese Nuklearrezeptoren werden insbesondere von vielen Pflanzeninhaltsstoffen aktiviert. Bekanntestes Beispiel ist das Johanniskraut, dessen Bestandteil Hyperforin ein starker Induktor von PXR ist. Daher ist die Anwendung von Johanniskraut-Präparaten kontraindiziert bei gleichzeitiger Einnahme von Immunsuppressiva oder HIV-Protease-Inhibitoren – fast alle sind gute ABC-Transporter- und CYP450-Substrate. Hyperforin kann ABC-Transporter und CYP-Enzyme hochregulieren, und die Medikamente verlieren dann ihre Wirksamkeit.
Abbildung 3: Durchtritt von oberflächenmodifizierten Nanopartikeln durch die Blut-Hirn-Schranke. Zur besseren Visualisierung wurden die Partikel mit einem fluoreszenzmarkierten Wirkstoff beladen. Die Abbildung zeigt die Verteilung der Partikel im Gehirngewebe 30 Minuten nach intravenöser Verabreichung.
Bei einer Aids-Therapie kann dies besonders fatal sein, da das Virus auch ins Gehirn eindringt, die Protease-Inhibitoren die Barriere aber nicht durchdringen können, wenn die ABC-Transporter an der Blut-Hirn-Schranke hochreguliert sind. Bei immunsupprimierten Patienten kann es zur Organabstoßung kommen, wenn Transporter und metabolisierende Enzyme hochreguliert werden und dadurch die Spiegel der Immunsuppressiva absinken.
Der AHR-Rezeptor spricht besonders sensitiv auf Umweltgifte, beispielsweise TCDD (Tetrachlordibenzodioxin) oder das Insektizid DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) an. Das als Seveso-Gift bekannt gewordene TCDD reguliert die ABC-Exportproteine in der Blut-Hirn-Schranke bereits in picomolaren Konzentrationen stark nach oben – ein weiterer Beleg dafür, wie effektiv dieser Schutzmechanismus wirkt.
Konzepte zur Überwindung der Barriere
Trotz all dieser Schwierigkeiten gibt es doch einige vielversprechende Ansätze, Medikamente durch die Barriere zu schleusen und im Gehirn therapeutisch wirksame Konzentrationen zu erreichen.
Professor Dr. Ed Neuwelt von der Oregon Health and Science University injiziert zum Beispiel seinen Patienten eine hochkonzentrierte Lösung des Zuckeralkohols Mannit in eine Arterie, die zum Gehirn führt. Aufgrund des hyperosmolaren Effekts verlieren die Endothelzellen der Hirngefäße Flüssigkeit und schrumpfen etwas. In der Folge öffnen sich die engen Zell-Zell-Kontakte und Medikamente können hindurchdiffundieren. Bis zu drei Stunden bleibt die Schranke offen; dann beginnt sie sich wieder zu schließen. Klinische Versuche bei Patienten mit Gehirntumoren zeigen, dass die Ansprechrate auf Zytostatika je nach Tumor bei diesem Verfahren deutlich verbessert ist.
Alzheimer-Demenz geht einher mit der Aggregation von Amyloid-ß-Peptiden. An deren Abtransport ist P-Glykoprotein beteiligt.
Foto: Shutterstock/Ocskay Bence
Einige große Moleküle durchqueren die Schranke über eine rezeptorvermittelte Transzytose. Sie binden an Rezeptoren auf der Oberfläche der Kapillarendothelzellen, die Membran stülpt sich ein und die Rezeptoren werden mit ihren Liganden durch die Endothelzellen hindurchtransportiert. Zu ihnen zählen der Transferrinrezeptor, der Insulinrezeptor, LDL (low density lipoprotein)- und LRP (low density lipoprotein receptor related protein)-Rezeptoren oder RAGE (Receptor for advanced glycation endproducts). Dieser Transportmechanismus kann pharmakologisch genutzt werden: Wirkstoffe können entweder direkt an Liganden der Rezeptoren gekoppelt oder in kolloidale Trägersysteme wie polymere Nanopartikel oder Liposomen verpackt werden. Diese Träger sind an ihrer Oberfläche mit zielsuchenden Strukturen dekoriert, entweder Substraten der genannten Rezeptoren oder Antikörpern gegen dieselben. Einmal vom Rezeptor erkannt, werden sie durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert (Abbildung 3).
1989 zeigte die Gruppe um den Amerikaner William Pardridge, dass es möglich ist, mit einem liposomalen Trägersystem große Mengen des Zytostatikums Daunorubicin ins Gehirn von Ratten einzuschleusen. Die Wissenschaftler verpackten bis zu 30 000 Daunorubicin-Moleküle in ein einziges oberflächenmodifiziertes Liposom. So gelangten große Mengen des Wirkstoffs ins Rattenhirn – über einen natürlichen Transportweg und vorbei an den Exportpumpen, die den Wirkstoff umgehend wieder zurück ins Blut transportiert hätten (5). Inzwischen wurde in Affenstudien gezeigt, dass diese Methode auch für den Transport von Gentherapeutika ins Gehirn genutzt werden kann.
Natürlich stellt sich bei der Verwendung derartiger Trägersysteme die Frage nach der Verträglichkeit. Die Träger müssen biokompatibel und im Idealfall schnell abbaubar sein, wobei keine giftigen Abbauprodukte entstehen sollten. Wie hoch ist das Risiko, dass es nach wiederholter Verabreichung von polymeren Trägern zur Akkumulation von »Müll« im Gehirn kommt? Die Anwendung von Polymeren mit den genannten Eigenschaften minimiert dieses Risiko. Alkylcyanoacrylat- oder Poly-Lactid/Glycolid-Nanopartikel werden innerhalb eines Tages oder weniger Wochen abgebaut. Bei der Degradation entstehen körpereigene nicht-toxische Abbauprodukte. Aktuell zeigen Studien, dass auch im Blut zirkulierende Nanopartikel kaum zu adversen Reaktionen führen (6).
Noch weitgehend ungeklärt ist die Frage, ob sich auch Biologicals, also Proteine oder Nukleinsäurekonstrukte, in Nanopartikel eingebaut ins Gehirn einschleusen lassen. Während niedermolekulare Wirkstoffe recht gut verpackt werden können, ist die Verkapselung von Biologicals eine ganz besondere Herausforderung. Die Makromoleküle dürfen nicht abgebaut werden, ihre räumliche Struktur muss erhalten bleiben, und sie müssen nach ihrer Freisetzung immer noch ausreichend aktiv sein.
Insbesondere bei Stoffwechselerkrankungen wie lysosomalen Speicherkrankheiten, die häufig mit sehr schweren neurologischen Störungen verbunden sind, besteht dringender Bedarf an effizienten Darreichungssystemen, mit deren Hilfe therapeutisch wirksame Enzyme ins Gehirn eingeschleust werden können. Doch es gibt Hoffnung: Präklinische Studien zeigen, dass es mittlerweile gelingt, Enzyme in Polymer-Nanopartikel einzubauen und sie unter weitgehendem Erhalt ihrer Funktion wieder daraus freizusetzen.
Eine weitere Möglichkeit, die Polymerbelastung des Gehirns zu senken, besteht darin, Wirkstoffnanopartikel oder Nanokristalle mit nur einer dünnen Schicht an Polymer zu überziehen, sodass die applizierten Partikel im Wesentlichen aus Wirkstoff bestehen.
Mittlerweile laufen erste Humanstudien mit Glioblastom-Patienten, denen Zytostatika, verpackt in zielsuchende Nanopartikel, verabreicht werden. Vorläufige Ergebnisse sind vielversprechend und geben Anlass zur Hoffnung, dass diese Technologie Eingang in die Klinik findet.
Hirntumoren wie Glioblastome sind extrem schwer zu behandeln.
Foto: Your Photo Today
Eine andere Technologie nutzt sogenannte Mikrobubbles und fokussierten Ultraschall, um die Blut-Hirn-Schranke ganz gezielt in bestimmten Hirnarealen zu überwinden. So gelang es beispielsweise, systemisch verabreichtes Herceptin, Amyloid-β-Antikörper oder EPO mit Ultraschall, der durch Magnetic Resonance Imaging gesteuert wurde, gezielt in bestimmte Gehirnregionen von Nagetieren einzuschleusen. Auch hier zeigt ein erster klinischer Versuch, bei dem die Kombination aus einem gebündelten Strahl von Ultraschallwellen und gasgefüllten Mikrobläschen eingesetzt wurde, dass dieses Transfer-Konzept auch am Menschen anwendbar ist (7).
Die Methode ist für akute Behandlungen, zum Beispiel in onkologischen Indikationen, sicher hochinteressant. Es bleibt aber zu prüfen, ob sie auch bei chronischen Indikationen wie Stoffwechselerkrankungen anwendbar ist. Ein Nachteil des Verfahrens besteht eben darin, dass die Blut-Hirn-Schranke unselektiv geöffnet wird und damit vielleicht auch unerwünschte Substanzen ins zentrale Nervensystem eindringen können. /
Gert Fricker studierte Chemie und Medizin an der Universität Freiburg, wurde 1986 im Fach Biochemie promoviert und habilitierte sich 1993 für das Fach Experimentelle Medizin. Nach einem Aufenthalt als Post-Doc am Universitätsspital Zürich trat er 1988 in die Abteilung Drug Delivery Systems der Firma Sandoz AG in Basel ein. 1995 folgte er einem Ruf der Universität Heidelberg an das damalige Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie. Seit 2002 ist Professor Fricker als Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie tätig. Daneben ist er Geschäftsführer des Steinbeis Technologie-Transferzentrums Biopharmazie und Analytik in Heidelberg und Mitgründer der Heidelberg Delivery Technologies GmbH. Seine Forschungsinteressen gelten Membrantransportprozessen, innovativen Arzneiformen und dem Wirkstofftransport durch die Blut-Hirn-Schranke.
Professor Dr. Gert Fricker
E-Mail: gert.fricker@uni-hd.de
Literatur