Sprunginnovationen im Fokus |
12.06.2012 17:33 Uhr |
Zwei Arzneistoffe für Patienten mit Hepatitis-C-Infektion, ein Antiepileptikum, zwei Wirkstoffe für Menschen mit Multipler Sklerose und drei Zytostatika: Professor Dr. Hartmut Morck, Wiesbaden, stellte wiederum neue Arzneistoffe vor.
Als Sprunginnovationen stufte er die Proteasehemmer Boceprevir und Telaprevir ein, die beide im Herbst 2011 auf den Markt gekommen sind. Sie richten sich gegen die NS3-Protease von Hepatitis-C-Viren (HCV) und unterbrechen damit die Virusvermehrung in infizierten Zellen. Im Verbund mit Peginterferon und Ribavirin werden sie bei erwachsenen Patienten mit kompensierter Lebererkrankung eingesetzt. In klinischen Studien erreichten 66 bis 68 Prozent der Patienten unter Boceprevir und bis zu 75 Prozent unter Telaprevir ein »anhaltendes virologisches Ansprechen«. Dies gilt als Heilung.
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Morck wandte sich bei der Bewertung des Zusatznutzens klar gegen die Position des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Das IQWiG habe moniert, dass die Viruslast als Zielparameter gewählt wurde und die Studien keine Aussagen zum Auftreten von Leberschäden und -karzinomen erlaubten. »Die Bewertung der Viruslast ist internationaler Standard.« Er halte es für falsch, die Substanzen so schlecht zu bewerten.
Als »neue Struktur mit ganz neuem Wirkmechanismus« stellte der Apotheker das Antiepileptikum Retigabin vor. Dies ist ein Kaliumkanalöffner mit relativ hoher Selektivität zu Kv7-Kanälen, die vorwiegend im zentralen und peripheren Nervensystem exprimiert werden. Retigabin ist als Zusatzmedikation für Patienten mit fokalen Anfällen zugelassen und wird auftitriert bis zur Erhaltungsdosis, die zwischen 600 und 1200 mg pro Tag liegt. In einer Phase-III-Studie wurde die Zahl der Anfälle damit um 29 sowie 35 Prozent reduziert. Dennoch habe das IQWiG keinen Zusatznutzen anerkannt und der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) habe dieses Votum bestätigt. Daher wird der Hersteller GSK das Medikament nicht in Deutschland ausbieten, informierte Morck. Die darauf eingestellten Patienten könnten Retigabin aber aus dem Ausland erhalten.
Als erste Substanz, die die Gehfähigkeit bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) verbessern kann, kam Fampridin im September 2011 auf den Markt. Der Kaliumkanalblocker sei zwar eine Sprunginnovation, wirke aber leider nur bei einigen Patienten, schränkte Morck ein. Bei Respondern können zweimal täglich 10 mg Fampridin die Gehfähigkeit um etwa 25 Prozent verbessern. Das Arzneimittel wurde unter Auflagen zugelassen; das bedeutet, dass der Hersteller weitere Daten zu Nutzen und Langzeiteffekten vorlegen muss.
Ebenfalls für MS-Patienten ist ein Cannabis-Extrakt, der zu gleichen Teilen Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol enthält. Das Medikament unterliegt dem Betäubungsmittelrecht. In die Mundhöhle gesprüht soll es spastische Zustände lindern, an denen bis zu 80 Prozent der Patienten leiden. Die europäische Behörde EMA habe die Zulassung zunächst verweigert, da der Extrakt nur bei etwa 30 Prozent der Patienten wirkt, berichtete Morck. Gemäß der Phase-III-Studie wird dies nun zuerst über vier Wochen geprüft; bessert sich die Spastik in definiertem Ausmaß, können die Patienten weiterbehandelt werden. Das sich eine Abhängigkeit entwickelt, sei unwahrscheinlich. Das Spray unterliegt der Kühlkettenpflicht.
Von drei neuen Zytostatika bewertete Morck nur Vandetanib als Schrittinnovation. Der Tyrosinkinasehemmer ist zugelassen für Menschen mit fortgeschrittenem Schilddrüsenkarzinom. Wegen der teils schweren Nebenwirkungen erhalten sie einen »Patientenpass«, der über mögliche Nebenwirkungen und Vorsichtsmaßnahmen aufklärt. Auch dieses Arzneimittel ist »unter Auflagen« zugelassen.
Sprunginnovationen sind aus Morcks Sicht dagegen der Antikörper Ipilimumab und der sogenannte BRAF-Inhibitor Vemurafinib, die bei Patienten mit fortgeschrittenem Melanom eingesetzt werden. In Studien überlebten diese statistisch signifikant länger – um wenige Monate. Ipilimumab kann jedoch extreme, auch lebensbedrohliche Nebenwirkungen auslösen. Das britische NICE-Institut habe die Erstattung von Ipilimumab abgelehnt, da vorab nicht erkennbar ist, welcher Patient profitieren wird, sagte Morck. »Es gibt keinen Biomarker für das Ansprechen.« Dagegen wird das peroral bioverfügbare Vemurafinib nur bei Patienten eingesetzt, bei denen eine mutierte BRAF-Kinase als »Motor« des unkontrollierten Zellwachstums nachgewiesen wurde. Der Arzneistoff kann schwere Nebenwirkungen bis zum Plattenepithelkarzinom auslösen.