Starke Hilfe bei schwacher Blase |
07.06.2011 17:46 Uhr |
Harninkontinenz ist keine lebensbedrohliche Erkrankung. Aber sie beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen teilweise deutlich. Das Tabuthema in der Gesellschaft kommt im folgenden Artikel ausführlich zur Sprache.
Die Kundenwünsche in der Apotheke sprechen ihre eigene Sprache. »Apotheker sind häufig näher an der Problematik als Mediziner und bekommen früher mit, was los ist«, sagte Professor Dr. Helmut H. Knispel vom St. Hedwig-Krankenhaus Berlin. Bis zu einem Alter von 65 Jahren seien überwiegend Frauen von Harninkontinenz betroffen. In den höheren Altersklassen holen die Männer aber stark auf, sodass es bei Patienten sehr hohen Alters kaum noch Unterschiede im Geschlechterverhältnis gibt.
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Knispel unterschied bei den Blasenfunktionsstörungen der Speicherphase zwischen Dranginkontinenz und Belastungsinkontinenz. Auch Mischformen seien möglich. »Eine Belastungsinkontinenz ist ganz anders zu behandeln als eine Dranginkontinenz«, betonte der Urologe.
Zunächst zur Dranginkontinenz: Bei dieser ist unfreiwilliger Urinverlust mit imperativem Harndrang oder unmittelbar davor aufgetretenem imperativem Harndrang verbunden. Mittel der Wahl sind nach wie vor Anticholinergika. Durch Hemmung muskarinerger Rezeptoren unterdrücken diese den Harndrang, indem sie die Kontraktionskraft des Musculus detrusor blockieren. Das ist der Muskel, der für die Entleerung der Harnblase zuständig ist. »Ein Problem aller gängigen Substanzen dieser Klasse sind die Nebenwirkungen«, so Knispel. Denn Muskarin-Rezeptoren gibt es eben nicht nur an der Blase. Durch Blockade von M2-Rezeptoren kann es zum Beispiel am Herzen zu einer Tachykardie kommen, die Inhibition von M5-Rezeptoren im Auge kann verschwommenes Sehen zur Folge haben. Auch Mundtrockenheit ist ein Problem. Knispel stellte eine Untersuchung vor, wonach 87 Prozent der Patienten, die eine Oxybutynin-haltige IR-Formulierung erhalten hatten, unter Mundtrockenheit litten. »Wenn man unten trocken sein will, muss man hinnehmen, dass man auch oben trocken ist«, gab Knispel einen alten Urologen-Witz wieder.
Die Patienten nehmen es offenbar nicht hin, sondern brechen die Therapie häufig ab. Umso wichtiger ist es, Wirkstoffe einzusetzen, die eine hohe Selektivität für M3-Rezeptoren besitzen, denn diese sind vorwiegend an der Blase zu finden. Arzneistoffe wie Darifenacin und Solifenacin bezeichnete der Mediziner deshalb als derzeit modernste Substanzen. Diese hätten auch den Vorteil, dass sie weniger Rezeptoren im ZNS adressieren. Denn: »Anticholinergika beeinträchtigen nicht unerheblich die kognitiven Fähigkeiten, bei M3-Rezeptor-spezifischen Substanzen sind die kognitiven Verluste aber deutlich geringer«, sagte Knispel.
Ganz verzichten kann man aber auf »Dinosaurier-Substanzen« wie Oxybutynin oder Propiverin noch nicht. Der Referent informierte, dass letztgenannter Wirkstoff als einziger eine Zulassung zur Anwendung bei Kindern hat.
Seit einigen Jahren hat auch Botulinumtoxin-A Eingang in die Therapie der überaktiven Blase gefunden. Das Gift besitzt hohe Affinität zur neuromuskulären Endplatte. Injiziert man es in den Detrusor, so sinkt dessen Kontraktionskraft. Knispel sprach von einer Methode der Wahl bei bestimmten Patienten, die keine Anticholinergika erhalten dürfen. Im Median hält die Wirkung etwa neun Monate an und die Verträglichkeit ist gut. Darüber hinaus, so Knispel, sei auch ein Therapieversuch mit einem neuromodulatorischen Verfahren denkbar.
Bei der Belastungsinkontinenz kommt es zu unfreiwilligem Urinverlust bei körperlicher Anstrengung, etwa beim Laufen oder beim Husten. »Frauen sind hier anatomisch betrachtet deutlich im Nachteil«, so der Urologe. Die Öffnung des Beckenbodens ist bei ihnen deutlich größer als bei Männern. Knispel riet dazu, Übergewicht und Rauchen zu vermeiden und sich von einem Physiotherapeuten die richtigen Übungen der Beckenbodengymnastik zeigen zu lassen und diese lebenslang zu trainieren. Neben operativen Maßnahmen kann auch eine Belastungsinkontinenz medikamentös behandelt werden. Häufig wird dazu der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin verschrieben, der den Blasenauslasswiderstand erhöht. Der ursprünglich ausschließlich als Antidepressivum entwickelte Wirkstoff ist nur bei Frauen zugelassen. »Das war ein großer Fehler«, so Knispel. Denn er wirkt auch bei Männern, die zum Beispiel nach einer Prostataoperation eine Belastungsinkontinenz entwickeln. Zudem ist bei dieser Patientengruppe Knispel zufolge die Nebenwirkungsrate deutlich niedriger. Bei Frauen sei die Compliance dagegen schlecht, weil es oft zu innerer Unruhe und Unwohlsein führe.
Abschließend ging der Mediziner auf das Thema Prostatahyperplasie ein. Betroffene Männer erhalten zur Senkung des Blasenauslasswiderstandes häufig eine Therapie mit einem α-1-Blocker wie Tamsulosin oder Alfuzosin oder mit einem 5-α-Reduktasehemmer wie Finasterid oder Dutasterid.