Neue Therapien bergen neue Risiken |
30.05.2006 15:08 Uhr |
<typohead type="3">Neue Therapien bergen neue Risiken
Die Langzeitbehandlung von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) ist gut etabliert und sicher. In der Pipeline befinden sich derzeit wirksamere, aber auch nebenwirkungsreichere Arzneistoffe, die schon zu Komplikationen und Todesfällen geführt haben.
»Multiple Sklerose ist eine relativ häufige Erkrankung, von der statistisch gesehen einer von 800 Einwohnern in Deutschland betroffen ist«, sagte Professor Dr. Ralf Gold vom Institut für Multiple-Sklerose-Forschung an der Universität Göttingen. Vor allem Frauen erkranken, meist im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Aber auch Kinder und Jugendliche können betroffen sein, so der Referent.
»Das Kennzeichen der Multiplen Sklerose sind harte Entmarkungsherde in der weißen Substanz des ZNS«, erklärte Gold. In diesen Entzündungsherden geht die Isolierung der Axone, die so genannte Myelinscheide, verloren. Dadurch wird die Erregungsleitung beeinträchtigt, bis schließlich die Funktion des Axons vollständig zerstört ist. Je nachdem, welches Areal im ZNS betroffen ist, weisen die Patienten verschiedene Symptome wie Sehstörungen, Ataxie sowie Gefühls-, Schluck, Konzentrations- oder Blasenstörungen auf.
Die Krankheit verläuft sehr unterschiedlich. Bei 10 Prozent der Patienten treten keine Schübe auf, die Symptome nehmen schleichend zu. Diese Patienten mit primär chronisch progredienter MS sind schwierig zu behandeln, zumal keine Medikamente für diese Erkrankungsform zugelassen sind.
90 Prozent der Patienten leiden dagegen an einer schubförmigen MS, die sich gut therapieren lässt. In 50 Prozent der Fälle geht sie innerhalb von zehn Jahren in eine sekundäre Progedienz über.
Für den Verlust der Markscheiden sind verschiedene immunologische Mechanismen verantwortlich, erklärte Gold. Bei rund einem Drittel der Patienten ist die Entmarkung durch Makrophagen- und T-Zellen bedingt. »Fresszellen knabbern die Myelinscheiden ab.« Bei fast der Hälfte aller Patienten ist die Entzündung im ZNS Antikörper- beziehungsweise Komplementsystem-vermittelt. Für die Therapie während eines Schubs gilt immer noch Cortison als Goldstandard. Da dieses nur gegen Immunzellen wirkt, reicht die Behandlung bei einigen Patienten nicht aus. »Bei ihnen ist eine Blutwäsche nötig, bei der die gegen Hirnproteine gerichteten Antikörper aus dem Organismus entfernt werden«, sagte Gold. Die Plasmapherese ist als Krisenintervention geeignet, wenn der Patient innerhalb von sechs Wochen nicht auf Cortison anspricht. Die Besserungsrate liegt zwischen 50 und 70 Prozent. Für eine Langzeittherapie ist die Plasmapherese allerdings nicht geeignet.
Dazu stehen Interferone und Glatirameracetat zur Verfügung. Interferone verhindern, dass Immunzellen die Bluthirnschranke überqueren. Die Behandlung senkt die Schubrate um etwa 30 und die Anzahl der Entzündungsherde im ZNS um 70 Prozent, berichtete der Mediziner. Mehrere Interferon-Präparate sind auf dem Markt erhältlich. Jedoch sei es deutlich wichtiger, die Compliance zu verbessern als sich zu streiten, welches Präparat geringfügig besser sei. Eine amerikanische Studie hatte gezeigt, dass zwischen 40 und 70 Prozent der Patienten die Basistherapie im ersten Jahr wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen und dem nicht sichtbaren Therapieerfolg abbrechen. »Hier muss der Apotheker eingreifen«, sagte der Referent.
Eine Alternative zu den Interferonen stellt Glatirameracetat (Copaxone®) dar. Die Therapieansätze sind grundsätzlich gleichwertig. Beide haben in der frühen Phase der Erkrankung den größten Nutzen, so Gold. Bei schweren Verläufen hat sich der Einsatz von Mitoxantron bewährt, das auch die pathologische B-Zell-Aktivität hemmt. Auch Cyclophosphamid wird dann eingesetzt.
In der Pipeline befindet sich der Antikörper Natalizumab (Tysabri®), der die Leukozytenadhäsion an den Endothelzellen und somit das Eindringen der Immunzellen ins ZNS verhindert. In Studien traten 40 Prozent weniger Behinderungen in der Verumgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe auf, berichtete der Referent. »Der Antikörper ist vermutlich doppelt so wirksam wie die etablierte Basistherapie.« Doch er birgt auch gravierende Probleme: In den USA waren mehrere Patienten an progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie verstorben. In der EU soll der Wirkstoff in Kürze für Interferon-Non-Responder und für Patienten mit rasch progressiver schubförmiger MS zugelassen werden.
Eine weitere Option könnte zukünftig die Behandlung mit Fumarat sein. Der Wirkstoff senkt die Zahl der Entzündungsherde um etwa 90 Prozent und kommt jetzt in Phase III der klinischen Entwicklung. Der Referent äußerte sich verhalten optimistisch: »Bei allen neuen Medikamenten haben wir bereits Todesfälle erlebt.«
Als Alternative zur Basistherapie mit Interferonen könnten für Schwangere und Stillende Immunglobuline dienen. Für diese Gruppe sei die Wirksamkeit der Behandlung gut gesichert, für alle anderen nicht. Zusätzlich zur Basistherapie sei eine Enzymtherapie oder die Einnahme von Radikalfängern wie Vitamin E sinnvoll.