Mehr Schein als Sein |
30.05.2006 15:09 Uhr |
<typohead type="3">Mehr Schein als Sein
Neu auf den Markt gebrachte Arzneistoffe werden von den Herstellerunternehmen meist als Innovationen angepriesen. Doch bei genauer Betrachtung sind manche Substanzen weder besonders innovativ noch haben sie einen therapeutischen Vorteil gegenüber Vorgängersubstanzen.
Eine kritische Bewertung einiger in 2005 und 2006 zugelassener Arzneimittel trug Professor Dr. Hartmut Morck, Chefredakteur der Pharmazeutischen Zeitung, vor.
»Das inhalative Glucocorticoid Ciclesonid wird vom Hersteller als Durchbruch gefeiert«, sagte Morck. Der für die Behandlung von persistierendem Asthma bei Erwachsenen zugelassene Wirkstoff steht jedoch vielmehr zwischen Schritt- und Scheininnovation, urteilte Morck. In Vergleichsstudien hatte sich Ciclesonid als ebenso wirksam erwiesen wie die bewährten Substanzen Budesonid und Fluticasonpropionat. Doch die häufige Nebenwirkung dieser Substanzen, den Mundsoor, umgeht der Wirkstoff mit einem Trick: Ciclesonid ist ein Prodrug, das nicht im Mund, sondern erst in den Bronchien durch Esterasen in seine wirksame Form gespalten wird. Ciclesonid (Alvesco® Dosieraerosol) hat nun auch die EMEA-Zulassung für Kinder erhalten.
Durchaus als Sprunginnovation lasse sich der erste Anti-IgE-Antikörper Omalizumab (Xolair® Injektion) bezeichnen, sagte Morck. Die Indikation ist stark eingeengt: Der Wirkstoff ist ausschließlich als Zusatztherapie für Asthmatiker mit eingeschränkter Lungenfunktion trotz täglicher Therapie zugelassen. Der Antikörper fängt das Schlüsselmolekül der allergischen Reaktion, Immunglobulin E (IgE), ab. Die Kombination von Omalizumab mit Standardtherapie senkt, verglichen mit der Standardtherapie allein, die Zahl der schweren Exazerbationen um die Hälfte und die Zahl der Krankenhausnotaufnahmen um 27 Prozent, berichtete Morck. Der Antikörper ist ein echter therapeutischer Fortschritt, sollte aber wegen seiner hohen Kosten (1000 bis 3000 Euro monatlich) restriktiv eingesetzt werden.
Ebenfalls als echte Innovation bezeichnete der Referent den Funny-Kanalblocker Ivabradin (Procoralan® Filmtabletten). Seit Januar 2006 ist der Wirkstoff zur Therapie der chronischen stabilen Angina pectoris bei Patienten mit normalem Sinusrhythmus zugelassen, bei denen Betablocker kontraindiziert oder unwirksam sind. »Die Indikation ist also stark eingeschränkt«, erklärte Morck. Ivabradin hemmt die als Funny-Kanäle bezeichneten unspezifischen Ionenkanäle in den Schrittmacherzellen des Sinusknotens und senkt darüber die Herzfrequenz. In einer Vergleichsstudie mit Atenolol habe der Wirkstoff keine Überlegenheit gezeigt, so Morck. Die Therapiekosten seien aber zehnmal höher als bei Vergleichssubstanzen. Da Funny-Kanäle auch im Auge vorkommen, sind Augenerkrankungen eine häufige Nebenwirkung.
Mit Rasagilin (Azilect® Tabletten) nach Selegilin seit Juli 2005 der zweite irreversible Monoaminooxidase-B-Hemmer auf dem Markt. Die Wirksamkeiten der beiden Substanzen sind völlig vergleichbar, sagte Morck. Das Argument des Herstellers, dass bei der Verstoffwechselung keine amphetaminartigen Metaboliten entstünden, sei so nicht richtig. Zum einen würden solche Metabolite in geringem Maß gebildet, zum anderen hätten diese durchaus auch erwünschte Effekte: »Die Patienten werden wach«. Die Tagesbehandlungskosten von 4,14 Euro für Rasagilin gegenüber 0,96 Euro für Selegilin-Generika seien aber zu beachten.
Ein weiteres Parkinsonmittel ist seit kurzem neu auf dem Markt: Mit Rotigotin (Neupro® Matrixpflaster) steht erstmals ein transdermales System zur Parkinsontherapie zur Verfügung. In einer Vergleichsstudie war es Ropinirol allerdings signifikant unterlegen. Mit der neuen Applikationsform handle man sich zusätzliche Nebenwirkungen wie Hautirritationen, Schwindel und Erbrechen ein, so der Referent. Für Patienten mit Schluckbeschwerden könne das Pflaster aber Vorteile bieten.
Atomoxetin (Strattera®) ist das erste Nicht-Psychostimulans zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Warum der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer nicht als Antidepressivum auf den Markt gekommen ist, sei leicht zu beantworten, so Morck. Schon die Vergleichssubstanz Reboxetin mache keinen Umsatz, daher habe der Hersteller eine neue Indikation gesucht. Die absolute Wirksamkeit gegenüber Placebo sei mäßig, außerdem berge die Substanz eine Gefahr: Der Nebeneffekt der Appetitlosigkeit könne zu Missbrauch verleiten. Junge Frauen könnten Atomoxetin als Appetitzügler verlangen.
Einen Paradigmenwechsel in der Krebstherapie hat der monoklonale Antikörper Bevacizumab eingeleitet, hob Morck hervor. Der gegen den Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor) gerichtete Antikörper unterbindet die Angioneogenese. In einer Studie mit Patienten mit Kolorektalkarzinom verlängerte die Substanz das Überleben signifikant um 4,7 Monate gegenüber der momentanen First-Line-Therapie. Die Ergebnisse sind so beeindruckend, dass mit diesem Wirkstoff derzeit 57 Studien weltweit laufen. »Die Primärtherapie für verschiedene Indikationen wird angestrebt«, berichtete Morck.