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»Entscheidungszwänge am Lebensende«

21.05.2010  13:48 Uhr

Im Interview mit der PZ spricht Dr. Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle im Berliner Urban-Krankenhaus und Buchautor, über ethische Probleme bei der Medizin am Lebensende.

PZ: Herr Dr. de Ridder, Ihr Beruf ist die Rettung von Menschenleben. Aber in Ihrem neuesten Buch plädieren Sie »für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin«. Wie passt das zusammen?

 

De Ridder: Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin begeisterter Rettungs- und Intensivmediziner, und ich halte die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte auf diesem Gebiet, insbesondere Defi­brillation, Beatmung, künstliche Ernährung und Dialyse, für große Errungenschaften. Aber sie bringen ungelöste ethische Probleme mit sich. Denn sie können den Todeszeitpunkt von Sterbenden sehr weit verschieben. Und von dieser Möglichkeit machen die Mediziner viel zu oft Gebrauch, ohne sich dabei zu fragen, ob sie damit dem Wohl und Willen des Patienten dienen, ob sie sinnvolle Lebensverlängerung bewirken oder qualvolle Sterbeverzögerung.

 

PZ: Diesen Vorwurf veranschaulichen Sie in Ihrem Buch anhand von Patientengeschichten, die Sie selbst als Rettungsmediziner miterlebt haben. Unter anderem berichten Sie den Fall der 86-jährigen Gerda L., die bei einem Schlaganfall das Bewusstsein verlor und erst nach zwei Tagen gefunden wurde. Dann bekam sie in der Klinik eine umfassende intensivmedizinische Behandlung: Infusionen, Beatmungstubus, Blasenkatheter, invasive Blutdruckmessung, Herzschlagüberwachung. Als dann Kammerflimmern eintrat, folgten Herzmassagen und Stromstöße mit dem Defibrillator. Dennoch starb Gerda L.. Hätten die Ärzte das voraussehen und der alten Dame einen ruhigen Tod, ohne Schläuche, Apparate und Elektroschocks, ermöglichen sollen?

De Ridder: Ich denke ja. Aber das sehen viele Kollegen anders. Wir haben es bislang versäumt, eine Debatte über den verantwortungsvollen Umgang mit der Hochleistungsmedizin am Lebensende zu führen. Und weil das Thema im Studium kaum vorkommt, sind viele Ärzte ethisch nicht ausreichend auf solche Situationen und die damit verbundenen Entscheidungszwänge vorbereitet. Sie reagieren, indem sie fast schon reflexhaft alles Machbare machen.

 

PZ: Warum?

 

De Ridder: Weil sie sich dann rechtlich auf der sicheren Seite fühlen. Oder weil sie es nicht ertragen können, einen Patienten aufzugeben, und stattdessen jede noch so winzige Chance auf Rettung oder Lebensverlängerung ergreifen.

 

PZ: Ist das nicht ihre ethische Pflicht?

 

De Ridder: Es ist ein weitverbreiteter Irrtum der Ärzteschaft, ihren beruflichen Auftrag allein in der Heilung von Krankheiten und dem Erhalt von Leben zu sehen. Diesem Auftrag steht die Pflicht, für einen guten Tod zu sorgen, ethisch in nichts nach. Dann nämlich, wenn die auf Lebenserhalt zielende Therapie sich erschöpft hat und als Behandlungsziel ein friedliches und würdiges Sterben ganz in den Vordergrund rückt.

 

PZ: Wie soll der Arzt aber entscheiden, was für den Patienten am besten ist?

 

De Ridder: Das ist natürlich nicht leicht. Der Arzt braucht ein großes medizinisches Wissen und viel Erfahrung, um die Erfolgsaussichten eines Eingriffs abschätzen zu können. Zudem muss er, wenn irgend möglich, den Patientenwillen berücksichtigen. Und das geht nur unter dem Schirm des Dialogs mit den Patienten oder Angehörigen.

 

PZ: Was empfehlen Sie dabei?

 

De Ridder: Ärzte sollten zunächst den medizinischen Sachverhalt und die Folgen einer Behandlung oder Nicht-Behandlung erklären, dann eine Empfehlung abgeben und dann die Meinung oder vermutliche Meinung des Patienten dazu herausfinden. Dabei gilt: Patienten und Angehörige können einen Arzt nicht zur Einleitung einer Therapie zwingen, die nach seiner Einschätzung nicht dem Patientenwohl dient. Aber umgekehrt dürfen auch Ärzte niemanden gegen seinen Willen behandeln. Sonst machen sie sich strafbar wegen Körperverletzung.

 

PZ: Diese Position wurde durch die Einführung der Patientenverfügung gestärkt. Halten Sie das für richtig?

 

De Ridder: Auf jeden Fall. Schließlich fördert die Patientenverfügung die Selbstbestimmung und die Beschäftigung mit elementaren ethischen Fragen. Jeder kann sich Gedanken machen, wie er sterben möchte.

 

PZ: Wie stellen Sie sich einen guten Tod vor?

 

De Ridder: Wahrscheinlich ähnlich wie die meisten Menschen: In einer vertrauten Umgebung, im Einvernehmen mit sich und seinen Vertrauten, ohne Angst, ohne Schmerzen, ohne langes qualvolles Krankenlager auf der Intensivstation. Dafür bietet die Palliativmedizin geeignete Möglichkeiten. Aber derzeit übersteigt in Deutschland der Bedarf das Angebot um ein Vielfaches. Wir müssen es dringend ausbauen. Ich bin mir sicher, dass wir den Patienten Gutes tun, indem wir ihnen die Chance auf ein friedliches und würdevolles Sterben geben. /

Buchtipp

Michael de Ridder: »Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin«. DVA, München; 320 Seiten; 19,95 Euro.

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