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Ernährung

Die Psyche isst mit

Datum 19.04.2010  18:47 Uhr

Von Christina Hohmann / Man isst nicht nur, weil man Hunger hat. Auch der Geruch und das Aussehen des Essens, die eigene Stimmung, die kulturellen oder religiösen Einstellungen und Erfahrungen aus der Kindheit spielen bei der Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle.

In erster Linie wird die Nahrungsaufnahme physiologisch bestimmt: Der Körper verfügt hierfür über ein komplexes System, das steuert, was, wann und wie viel wir essen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Zwischenhirn, der Hypothalamus. Er steuert neben der Nahrungsaufnahme auch weitere Faktoren wie Körpertemperatur, Wasserhaushalt und den Schlaf-Wach-Rhythmus. Im Hypothalamus laufen Meldungen des Körpers zu Energiereserven und der Füllmenge im Magen-Darm-Trakt zusammen. Sind die Energiespeicher leer, macht sich Hunger bemerkbar. Der Mensch beginnt zu essen.

Sobald er mit der Mahlzeit begonnen hat, sendet der Körper zu verschiedenen Zeiten Signale an den Hypothalamus. Rezeptoren in der Magenwand und im Darm reagieren auf Dehnung und bestimmte Bestandteile der Nahrung und geben Rückmeldung an das Gehirn: Das Hungergefühl lässt nach. Dieser kurzfristige Sättigungsmechanismus, auch als präabsorptive Sättigung bezeichnet, wird vor allem durch das Volumen der aufgenommenen Nahrung bestimmt. Daher sättigt ein Teller Suppe ebenso gut wie eine Portion Pommes frites – zumindest kurzfristig. Wie lange das Sättigungsgefühl anhält, hängt aber stark von den Bestandteilen der aufgenommenen Nahrung ab. Diese werden im Darm absorbiert und gelangen in den Blutkreislauf. Rezeptoren in der Leber registrieren zum Beispiel die Ankunft von Abbauprodukten der Nahrungsfette, und auch der Blutzuckerspiegel wird überwacht. Die jeweiligen Signale erreichen den Hypothalamus, wo sie das Sättigungsgefühl beeinflussen. Dabei haben die verschiedenen Nahrungsbestandteile ein unterschiedliches Potenzial, satt zu machen. Kohlenhydrate sättigen schnell, Fett und Proteine dagegen lang anhaltend. Ist der Magen leer und die Energiereserven sind aufgebraucht, setzt wieder das Hungergefühl ein.

 

Über dieses komplexe System, das hier vereinfacht dargestellt ist, kann der Mensch sein Körpergewicht über lange Zeit konstant halten und Unter- sowie Übergewicht vermeiden. Bei Säuglingen und Kleinkindern funktioniert dies sehr gut: Sie trinken oder essen, wenn sie Hunger haben, und hören auf, wenn sie satt sind. Außerdem spüren sie, was sie benötigen. In einem Experiment ließen Wissenschaftler Kleinkinder aus einem Angebot an Nahrungsmitteln frei auswählen. Das Ergebnis war verblüffend: Die Kinder suchten sich eine gesunde Mischkost aus.

 

Dass der Regulationsmechanismus bei älteren Kindern und Erwachsenen nicht mehr zu funktionieren scheint, hat verschiedene Ursachen. Ein Grund ist, dass viele Menschen verlernt haben, die Signale des Körpers zu erkennen. Hierzu tragen zum Beispiel Diäten bei, bei denen Hungergefühle bewusst ausgeblendet werden, oder die früher gängige Erziehungsmethode, dass Kinder ihren Teller leer essen müssen, wodurch sie verlernen, Sättigung wahrzunehmen. Ein weiterer Grund ist, dass die physiologische Regulation von der Psyche überlagert wird: Man isst nicht nur, um den Hunger zu stillen, sondern auch weil man traurig ist, weil man in Gesellschaft ist oder etwa Langeweile verspürt. Mit zunehmendem Alter überlagern Erfahrungen, Gewöhnung und Prägung durch die Umwelt die inneren Signale.

 

Abgesehen von den genetischen Präferenzen für Süßes und Salziges, ist die Entwicklung des Essverhaltens ein sozialer Lernprozess. Was Kinder häufig angeboten bekommen, das mögen sie später auch. Man spricht hier von Kontaktlernen oder »mere exposure effect«. Außerdem kommt dem Beobachtungslernen eine wichtige Rolle zu. Kleine Kinder orientieren sich zunächst an den Essgewohnheiten ihrer Eltern und Geschwister. Was diese ablehnen, werden sie auch nicht essen. Später richten sich Kinder und Jugendliche verstärkt nach Gleichaltrigen, der sogenannten Peergroup. Sie überwinden aufgrund gesellschaftlicher Zwänge ihre angeborene Aversion gegen Bitteres und beginnen zum Beispiel Kaffee, schwarzen Tee oder Alkohol zu konsumieren, obwohl sie ihnen zunächst nicht schmecken.

 

Essen als Seelentröster

 

Starken Einfluss auf das spätere Essverhalten haben auch Situationen, in denen bestimmte Speisen mit Emotionen in Verbindung gebracht werden: Wenn zum Beispiel Eltern ihrem Kind, das hingefallen ist, eine Süßigkeit als Trost anbieten, oder wenn gute Noten mit Schokolade belohnt werden. Solche Praktiken können unter anderem dazu beitragen, dass Essen auch im späteren Leben dazu verwendet wird, Emotionen zu regulieren. Man belohnt sich nach bestandener Prüfung mit seinem Lieblingsessen, tröstet sich mit Schokolade oder einem Glas Alkohol oder isst verstärkt in Stresssituationen, um sich zu beruhigen. Jeder Mensch erlernt im Laufe seines Lebens ein eigenes System, zu welchen Lebensmitten er in welchen Gefühlslagen greift, so die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Diese emotionalen Erfahrungen gehören zu einem normalen Essverhalten. Problematisch würde es laut DGE, wenn Essen als einzige Möglichkeit erlebt wird, das seelische Gleichgewicht wieder herzustellen. Dies könnte zu einem gestörten Essverhalten und auch zu Übergewicht führen. Solche in der Kindheit erlernten Verhaltensmuster sind nur mit großer Anstrengung wieder zu korrigieren.

 

Einflüsse der Umwelt

 

Eine wichtige Rolle in der Ausbildung des Essverhaltens und der Nahrungsmittelprävalenzen spielt auch die Kultur, in der ein Mensch groß wird. Durch sie lernt er, wann man isst, und für welche Tageszeit welche Speisen passend sind. So halten Deutsche Müsli oder Marmeladebrot als Frühstück für angemessen, während zum Beispiel Engländer Eier mit Speck und Chinesen Nudelsuppe bevorzugen. Die Kultur und Tradition führen aber nicht nur zu bestimmten Vorlieben, sondern halten auch Verbote bereit, wie zum Beispiel einige religiöse Tabus. Hierzu zählen das Schweinefleischverbot im Islam und im Judentum und das Fastengebot der Christen in der Fastenzeit.

Einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Essverhaltens hat auch das Geschlecht. Weltweit herrschen Klischees vor, was Männer und was Frauen zu essen haben. So gilt Fleisch zum Beispiel als typisch männlich. Studien zufolge essen und aßen Männer in fast allen Kulturen und allen Jahrhunderten mehr Fleisch als Frauen. Dies wird und wurde häufig dadurch begründet, dass Männer härter arbeiten müssten. Über die Jahrhunderte hat sich diese Vorstellung so festgesetzt, dass sie nicht mehr hinterfragt wird und dass sie von beiden Seiten akzeptiert wird. Männer essen heute gerne und viel Fleisch, während Frauen lieber einen Salat knabbern. Dass dies nicht ein Vorurteil, sondern die Realität ist, zeigen Statistiken. Der Nationalen Verzehrsstudie von 2005/2006 zufolge essen deutsche Männer mit 103 g pro Tag doppelt so viel Fleisch und Wurst wie Frauen mit 53 g. Dagegen hatten Frauen einen höheren Obstkonsum (270 g pro Tag) als Männer (222 g pro Tag). Aus biologischer Sicht gibt es für diese Unterschiede im Essverhalten keinen Grund. Gerade der Verzehr von rotem Fleisch wäre wegen des erhöhten Eisenbedarfs für Frauen sinnvoll.

 

Insgesamt ist das Essverhalten von Frauen eher durch Verzicht bestimmt. Frauen sollten zart sein und möglichst keinen übermäßigen Appetit haben – diese Vorstellung ist bei Männern und Frauen weltweit verbreitet. Das gängige Schönheitsideal der schlanken bis mageren Frau führt dazu, dass Frauen sich beim Essen zurückhalten. Sie machen häufiger Diäten als Männer und haben auch ein deutlich höheres Risiko, Essstörungen zu entwickeln. Anorexia nervosa ist fast ausschließlich eine Erkrankung von Frauen – nur etwa 5 Prozent der Betroffenen sind Männer.

 

Die Weichen für unterschiedliches Essverhalten werden früh gestellt. Befragungen und Studien zufolge haben bereits Jungen einen lustbetonteren Zugang zu Essen als Mädchen. In einer Untersuchung zeigten neunjährige Mädchen ein gezügeltes Essverhalten, um Schönheitsidealen nachzustreben, und die Mehrheit der Zwölfjährigen fand sich zu dick. Verstärkt wird dies häufig noch durch das Verhalten der Eltern, die sich über den Appetit des Sohnes freuen und den der Töchter eher zügeln.

 

Das Ernährungswissen

 

Eine gewisse Rolle bei der Nahrungsmittelwahl und -menge spielt auch das Ernährungswissen. Ernährungsbewusste vermeiden fette und kalorienhaltige Speisen und bevorzugen vitaminreiche und energiearme Speisen. Wie stark sich die Ratio aber gegen die Emotionen durchsetzen kann, ist individuell unterschiedlich. Ein fundiertes Ernährungswissen allein schützt nicht vor einem falschen Essverhalten. So weisen übergewichtige Kinder und Erwachsene in Studien ein ebenso gutes Ernährungswissen auf wie normalgewichtige Gleichaltrige. Die Diskrepanz zwischen den intellektuellen Kenntnissen über Ernährung und dem Alltagsverhalten fasste der Ernährungspsychologe Professor Dr. Volker Pudel in einem Kommentar zusammen: »Ernährung findet im Kopf statt, Essen im Bauch.« /

 

 

Literatur

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aid-Special: Essen und Psyche – Ansätze für Beratung und Bildung, aid-Infodienst (2007).

DGE-Beratungspraxis: Essen und Psyche (2000).

Pudel, V., Westenhöfer, J., Ernährungspsychologie – Eine Einführung, Hogrefe-Verlag (2003).

 

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