Missionen und Visionen |
06.04.2010 15:42 Uhr |
Von Bettina Sauer, Berlin / Wie steht es um die Pharmazeutische Betreuung in Deutschland? Wo liegen Erfolge, wo Probleme? Und welche Visionen gibt es für die Zukunft? Mit diesen Fragen beschäftigte sich in Berlin ein Workshop der Förderinitiative Pharmazeutische Betreuung.
Genau vor 20 Jahren veröffentlichten Charles Hepler und Linda Strand von der US-amerikanischen University of Florida eine neue Philosophie für den Apothekerberuf. 1990 schrieben sie im »American Journal of Hospital Pharmacy«: »Apotheker sollten sich ihrer sozialen Verantwortung stellen und die Morbidität und Mortalität im Zusammenhang mit Medikamenten verringern helfen.« Allein 1987 hätte die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde rund 15 000 Krankenhauseinweisungen und 12 000 Todesfälle aufgrund von Arzneimittelschäden gemeldet bekommen – und das, obwohl sich solch gravierende Probleme häufig vermeiden ließen. Deshalb forderten Hepler und Strand eine neue »Philosophie« im Apothekenalltag und bezeichneten diese als Pharmazeutische Betreuung (»Pharmaceutical Care«).
Definitionsgemäß bedeutet das, dass Apotheker Mitverantwortung für die Arzneimitteltherapie von Patienten übernehmen. Das geschieht durch die kontinuierliche Dokumentation und Überwachung aller eingesetzten Medikamente sowie regelmäßige Beratungen und Schulungen der Anwender. Ziel ist die Vermeidung oder frühzeitige Entdeckung und Lösung von arzneimittelbezogenen Problemen, wie etwa Doppelverordnungen, Wechselwirkungen oder Anwendungsfehlern und damit letztlich eine Verbesserung der Therapie, der Lebensqualität und der Gesundheit.
Wie steht es heute um dieses Konzept? Wie sehen die Studienlage und die Umsetzung in die Apothekenpraxis aus? Und welche Visionen gibt es für die Zukunft? Mit diesen Fragen beschäftigte sich vergangene Woche ein Workshop der Förderinitiative Pharmazeutische Betreuung. Sie unterstützt entsprechende Forschungsprojekte materiell und inhaltlich, würdigt sogar seit 2007 herausragende Arbeiten mit einem Preis. »Zudem bemühen wir uns, die Erkenntnisse öffentlich bekannt zu machen und in die Apothekenpraxis umzusetzen«, sagte Ronald Schreiber, Präsident der Landesapothekerkammer Thüringen und Vorsitzender der Förderinitiative. »Bei diesem Workshop möchten wir eine Bestandsaufnahme zur Pharmazeutischen Betreuung vornehmen und daraus Perspektiven für die Zukunft ableiten.«
Zunächst gaben zwei Vorträge einen allgemeinen Überblick. Die Referenten, Professor Dr. Martin Schulz, Geschäftsführer Arzneimittel der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, und Professor Dr. Marion Schäfer von der Charité Universitätsmedizin Berlin, beschäftigen sich seit Jahren wissenschaftlich mit der Pharmazeutischen Betreuung.
Voraussetzungen sind geschaffen
Schulz berichtete zunächst über die »bahnbrechende Veröffentlichung« von Hepler und Strand und die nachfolgende weltweite Verbreitung der neuen Philosophie. Dann skizzierte er wichtige Entwicklungen für Deutschland: So wurden 1993 die »Good Pharmacy Practice« der »Fédération Internationale Pharmaceutique« und die ABDA-Thesen zur Weiterentwicklung des Berufs verabschiedet; beide enthalten Pharmazeutische Betreuung. 1994 folgte die Gründung des »Pharmaceutical Care Network Europe«, 1997 die der deutschen Förderinitiative. 2001 richtete die ABDA erstmals einen Wochenendworkshop zum Thema aus. Bis heute folgten viele weitere, um die Apotheker für die neue Aufgabe zu wappnen. »Diesem Zweck dienen auch die zertifizierten Fortbildungen, die Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung, die Erarbeitung von Leitlinien, Manualen sowie Software und viele weitere Angebote der ABDA«, sagte Schulz. Für ihn steht fest: »Die Voraussetzungen für Apotheker, um Pharmazeutische Betreuung zu leisten, sind geschaffen.«
»Zudem liegen inzwischen zahlreiche nationale und internationale Studienergebnisse zu den unterschiedlichsten Krankheiten vor«, betonte Schäfer. Dazu zählten Asthma, Bluthochdruck, Demenz, Diabetes, Hauterkrankungen, Herzinsuffizienz und Osteoporose. Bezüglich Design und Durchführung ähnelten die Untersuchungen sonstigen klinischen Studien. Demnach werden in der Regel zunächst Patienten, die eine Arzneimitteltherapie benötigen, rekrutiert und in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine dient zur Kontrolle und bleibt während des Untersuchungszeitraums weitgehend sich selbst überlassen. Die andere dagegen bekommt in öffentlichen oder Krankenhausapotheken regelmäßig Pharmazeutische Betreuung. Die Studienleiter überwachen beide Gruppen bezüglich bestimmter Parameter, die den Krankheitsverlauf charakterisieren. Dazu zählen Blutdruck-, Blutzucker- und andere klinische Messwerte, aber auch der allgemeine Gesundheitszustand, die Lebensqualität sowie Klinikeinweisungen oder -Aufenthaltsdauern. »Viele Studien berücksichtigen auch die Raten der auftretenden sowie der durch die Apotheker lösbaren arzneimittelbezogenen Probleme«, sagte Schäfer. All diese Faktoren flössen in die aufwendige Auswertung ein.
Schäfer mahnte eindringlich davor, zu viel auf einmal nachweisen zu wollen. »Die Studienleiter sollten im Vorfeld so genau wie möglich festlegen, welche Maßnahmen die Apotheker zu welchen Zeitpunkten durchführen und welche arzneimittel- und patientenbezogenen Parameter erfasst werden sollen.« Forschungsbedarf besteht aus ihrer Sicht insbesondere bezüglich komplexer Messparameter, zum Beispiel Lebensqualität, Klinikeinweisungen oder wirtschaftlichen Effekten. »So liegt bislang noch keine Kosten-Nutzen-Analyse zur Pharmazeutischen Betreuung vor.« Dagegen lieferten Studien mit relativ einfach zu bestimmenden Messwerten schon recht erfolgreiche Daten. »Demnach scheint sich Pharmazeutische Betreuung insbesondere für chronisch kranke Patienten zu eignen, die mehrere, beratungsintensive oder nebenwirkungsreiche Arzneimittel benötigen.«
Gute Studienergebnisse betrachten Schäfer und Schulz als Grundlage, um Partner im Gesundheitssystem vom Nutzen des Konzepts zu überzeugen und so die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen für einen breiteren Einsatz der Pharmazeutischen Betreuung zu schaffen. Dass dies gelingen kann, veranschaulichte Schulz am Beispiel Asthma. So zeigen zwei Studien, die Schulz und Kollegen in Hamburg und Trier durchführten und 2001 beziehungsweise 2005 veröffentlichten, dass die Pharmazeutische Betreuung auf mehreren Ebenen Nutzen zeigt. Sie verbessert Schulz zufolge klinische Parameter (Asthmaschweregrad, Peak-flow-Werte und subjektives Krankheitserleben), ebenso wie »humanistische Parameter« (krankheitsspezifische Lebensqualität, Wissen, Therapietreue und Inhalationstechnik) und die Arzneimitteltherapie.
Zudem führten Schulz und Kollegen kürzlich die sogenannte VITA-Studie durch. Sie zeigt, dass gerade einmal 20 Prozent aller Asthma- oder COPD-Patienten ihre Inhalationsgeräte richtig anwenden und vor allem, dass eine einzige Schulung in der Apotheke die Rate auf 72 Prozent steigert. »Aufgrund dieses Ergebnisses wurde die untersuchte pharmazeutische Dienstleistung in die Nationale Versorgungsleitlinie Asthma aufgenommen und zählt damit zum Goldstandard«, sagte Schulz. Auch das Hausapothekenmodell und den neueren »Qualitätscheck Blutzuckerselbstmessung« für Barmer-Versicherte mit Typ-2-Diabetes durch pharmazeutisches Personal wertete Schulz vor allem als Frucht vorausgegangener erfolgreicher Studien.
Offene Frage der Honorierung
Als zentrale Herausforderung sieht er nun die flächendeckende Implementierung der Pharmazeutischen Betreuung, unter anderem durch die Einbindung in Nationale Versorgungsleitlinien und Disease Management Programme. Doch dafür seien nicht nur Studien vorzulegen, sondern auch einige Barrieren zu überwinden. Dazu zählten Widerstände vonseiten der Ärzte und die offene Frage der Honorierung. »Schließlich ist die Pharmazeutische Betreuung mit einem hohen Zeit- und Dokumentationsaufwand verbunden.« Schäfer bestätigte das. »Unter diesem Aspekt finde ich es beeindruckend, wie viele Apotheker an entsprechenden Studien mitwirken.«
Auf Basis dieser Ausführungen sowie Einblicken ins Ausland (siehe Kasten) und eigenen Erfahrungen diskutierten die Teilnehmer des Workshops in den drei Arbeitsgruppen »Forschung«, »Implementierung« und »Vision«, um Konzepte für die Zukunft zu entwickeln. So wurde etwa zur Förderung der Forschung eine stärkere Vernetzung und der Aufbau einer Datenbank laufender sowie und bereits abgeschlossener Projekte gefordert. Nötig seien auch Angebote zur Weiterqualifikation für Hochschul-Mitarbeiter und praktisch tätige Apotheker, die selbst ein Projekt durchführen wollen. Die Gruppe zur »Implementierung« beschäftigte sich mit Barrieren und Möglichkeiten, diese zu überwinden, die Gruppe »Visionen« stellte erste Ideen zu einer »Agenda 2020« vor. Übrigens kann jeder die Arbeit der Förderinitiative durch eine Mitgliedschaft oder Spende unterstützen. Informationen sind unter www.abda.de/pharmazeutische_betreuung.html zu finden. /
Pharmazeutische Betreuung beschäftigt Apotheker auf der ganzen Welt, auch in unseren Nachbarländern. Zwei von ihnen berichteten beim Workshop über ihre Erfahrungen: Der Niederländer Professor Dr. Marcel Bouvy arbeitet an der Abteilung für Pharmakoepidemiologie und Pharmakotherapie der Universität Utrecht sowie dem Stevenshof Institut in Leiden. Dieses betreibt als »Forschungslabor« eine eigene Apotheke. Dort bieten die Mitarbeiter jede Menge Pharmazeutische Betreuung. Unter anderem kümmern sie sich um Palliativpatienten, überwachen die Therapietreue von Osteoporose-Patienten und unterstützen das »COPD-Karussell«. Bei diesem Konzept werden COPD-Patienten mehrfach im Jahr in die Klinik eingeladen, nacheinander von einem Arzt, einer spezialisierten Krankenschwester und einem Physiotherapeuten durchgecheckt und von einem Apotheker bezüglich Arzneimitteltherapie, Einnahmetreue und Inhalationstechnik beraten und geschult. Den Nutzen ihrer Aktivitäten und der Pharmazeutischen Betreuung im Allgemeinen überprüfen Bouvy und seine Kollegen, indem sie klinische Studien durchführen. Das macht auch der Schweizer Professor Dr. Kurt Hersberger, Leiter der »Pharmaceutical Care Research Group« an der Universität Basel und Inhaber einer Apotheke. Er und mehrere andere Wissenschaftler entwickelten jüngst einen Polymedikations-Check, der Platz auf einer DIN-A4-Seite findet. Darin kann der Apotheker alle Arzneimittel eintragen, die ein Patient verwendet. Hinzu kommen bei jedem Präparat Angaben bezüglich Einnahmetreue (»Vergessen Sie manchmal, das Medikament einzunehmen?«), und Beratungsbedarf (»Wissen Sie, weshalb Sie das Medikament einnehmen?«) sowie gegebenenfalls Kommentare. Auch abschließende Empfehlungen sind zu vermerken – zum Beispiel, ob der Patient eine intensivierte Compliance-Unterstützung braucht oder wann der nächste Polymedikations-Check stattfindet. Der Bogen soll eine systematische Arzneimittel-Überwachung ermöglichen und wurde in einem Pilotprojekt erfolgreich getestet. Höchstwahrscheinlich wird er noch dieses Jahr flächendeckend in Schweizer Apotheken eingeführt.