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Abhängigkeit

Endlich trocken

21.02.2012  15:58 Uhr

Von Iris Hinneburg / Er gehört zu den häufigsten Suchtmitteln in unserer Gesellschaft: Alkohol. Davon wieder loszukommen, ist vielfach schwer. Um die Alkoholabhängigkeit erfolgreich zu behandeln, werden deshalb verschiedene therapeutische Verfahren eingesetzt.

Die positiven Effekte von ein oder zwei Gläschen Wein kennt wohl jeder: Die Gespräche werden angeregter, die Stimmung steigt. Mit zunehmendem Alkoholkonsum schlägt sie aber häufig um: Man reagiert gereizt, die Aggressionsschwelle sinkt. Hohe Dosen Alkohol können zudem akute Vergiftungen auslösen: Wahrnehmungsstörungen und Benommenheit treten auf, die Fähigkeit zur Koordination nimmt ab. Im Extremfall tritt ein Koma ein.

 

Chronischer Alkoholkonsum geht ebenfalls nicht spurlos am Körper vorbei. Alkohol ist ein starkes Zellgift, das Leber, Pankreas, Herz, Muskulatur und Nervensystem schädigen kann. Auch das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen steigt. Alkohol kann zu körperlicher und psychischer Abhängigkeit führen – häufig mit gravierenden Folgen nicht nur für den Abhängigen selbst, sondern auch für sein soziales Umfeld wie Familie und Freunde. Bei etwa jedem fünften Erwachsenen gehört ein riskanter Alkoholkonsum zum Alltag, rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland gelten als alkoholabhängig. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen.

 

Auch wenn sie weit verbreitet sind: Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit gehören immer noch zu den großen Tabus in unserer Gesellschaft. Kaum jemand spricht darüber, niemand traut sich, möglicherweise Betroffene auf das Problem anzusprechen. Dabei haben Untersuchungen gezeigt, dass Interventionen in einem frühen Stadium der Erkrankung die Betroffenen dazu bringen können, ihr Alkoholproblem zu erkennen und aktiv anzugehen. Mit entsprechenden Aufklärungsaktionen, die Kunden auf das Thema aufmerksam machen und die Möglichkeit zu einer Selbsteinschätzung bieten, kann auch die öffentliche Apotheke einen Beitrag zur Früherkennung leisten. Betroffene können dann mit ihrem Hausarzt das weitere Vorgehen beraten.

Der Schweregrad der Alkoholabhängigkeit beziehungsweise des schädlichen Alkoholkonsums bestimmt das therapeutische Vorgehen. Bei riskantem oder schädlichem Alkoholkonsum gelten ärztliche Kurzinterventionen als Mittel der Wahl. Die Beratungsgespräche zielen darauf ab, dass der Patient den Grund für seinen Alkoholkonsum erkennt, die Alkoholmenge deutlich reduziert oder sogar ganz auf Alkohol verzichtet, und sei es nur zeitweise. Auch Selbsthilfematerialien wie Trinktagebücher oder Verhaltenstrainings können die Maßnahmen unterstützen. Bei einer manifesten Alkoholabhängigkeit schließt sich an eine Entzugsbehandlung in der Regel eine lebenslange Rückfallprophylaxe an. Bei einer akuten Alkoholintoxikation ist zuvor eine Entgiftung notwendig, die häufig eine Krankenhauseinweisung erfordert.

 

Kein kalter Entzug auf eigene Faust

 

Bei einer Alkoholabhängigkeit sollte der Betroffene nicht auf eigene Faust versuchen, abrupt mit dem Trinken aufzuhören. Denn die auftretenden Entzugserscheinungen können schwere Störungen des zentralen Nervensystems auslösen. In unkomplizierten Fällen kann ein suchtmedizinisch versierter Arzt den Patienten ambulant dabei unterstützen, den Alkoholkonsum schrittweise auf null zu senken. In vielen Fällen ist das Umfeld des Alkoholkranken jedoch nicht für einen ambulanten Entzug geeignet, sodass ein (teil-)stationärer Aufenthalt erforderlich ist.

Alkoholabhängigkeit

Eine Alkoholabhängigkeit nach der ICD-10-Definition liegt vor, wenn während der letzten 12 Monate mindestens drei der folgenden sechs Kriterien erfüllt sind:

 

Es besteht ein starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu trinken.

Der Patient kann nicht ausreichend kontrollieren, wann und in welchen Mengen er Alkohol trinkt.

Ohne Alkohol kommt es zu einem körperlichen Entzugssyndrom.

Um die gleiche Wirkung zu erreichen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich (Toleranzentwicklung).

Zugunsten des Alkoholkonsums vernachlässigt der Patient zunehmend andere Interessen.

Obwohl der Patient die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums in körperlicher, psychischer oder sozialer Hinsicht spürt, trinkt er weiter Alkohol.

 

Wenn Frauen Getränke mit umgerechnet mehr als 12 Gramm beziehungsweise Männer mehr als 24  Gramm reinem Alkohol täglich zu sich nehmen, sprechen Experten von einem riskanten Alkoholkonsum. Ein schädlicher Gebrauch von Alkohol (Alkoholmissbrauch) liegt vor, wenn die Kriterien der Alkoholabhängigkeit zwar nicht erfüllt sind, der Alkoholkonsum aber bereits zu körperlichen, psychischen oder sozialen Schäden geführt hat.

Während des Entzugs können vegetative Symptome wie Zittern oder Schwitzen sowie erhöhter Blutdruck auftreten. Gefürchtet sind auch Entzugskrämpfe sowie Delirien. Dafür besonders anfällig sind Patienten mit einem sehr hohen Alkoholkonsum oder Missbrauch anderer Substanzen sowie Alkoholkranke mit weiteren psychischen oder körperlichen Erkrankungen. Für die Therapie der Entzugssymptome steht eine Reihe von Medikamenten zur Verfügung. Zur Senkung eines erhöhten Blutdrucks wird in der ambulanten Behandlung vor allem Clonidin eingesetzt. Zur Prophylaxe von Krämpfen wird häufig nicht-retardiertes Carbamazepin verordnet. Experten empfehlen eine Kombination von Carbamazepin und Tiaprid, wenn gleichzeitig vegetative Entzugssyndrome auftreten und Anfälle verhindert werden sollen. Im stationären Bereich werden zur Linderung der Entzugssymptome vor allem Clomethiazol und Benzodiazepine eingesetzt. Wegen des hohen Suchtpotenzials sollen diese Substanzen nicht bei ambulanter Behandlung verordnet werden. Der körperliche Entzug ist in der Regel nach spätestens einer Woche abgeschlossen.

 

Maßnahmen zur Rehabilitation

 

Erfahrungsgemäß fallen viele Alkohol­abhängige gerade im ersten Jahr nach einem erfolgreichen Entzug wieder schnell in ihre alten Gewohnheiten zurück. Um einen Rückfall zu verhindern, beginnt häufig schon während des stationären Entzugs eine Psychotherapie. Dabei sollen die Patienten nicht nur ihre Abstinenz bewahren, sondern gleichzeitig Verhaltensstrategien erlernen, mit denen sie einen erneuten Alkoholkonsum verhindern können. Auch Therapien für die häufig angespannte Familiensituation finden hier ihren Platz.

Die Behandlung kann stationär in einer Fachklinik stattfinden, bei einer guten Prognose des Patienten auch ambulant durch Suchtberatungsstellen, niedergelassene Psychiater oder spezialisierte Psychotherapeuten. Zur Stabilisierung eines alkoholkranken Patienten ist häufig eine Behandlungsdauer von mehreren Monaten bis zu einem Jahr erforderlich. Auch Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker können den Patienten darin unterstützen, einen nachhaltig abstinenten Lebensstil zu entwickeln.

 

Medikamentöse Rückfallprophylaxe

 

Auch Arzneimittel können dazu beitragen, das Verlangen (»Craving«) nach Alkohol zu bekämpfen. Am häufigsten werden dazu Acamprosat und Naltrexon eingesetzt. Eine verstärkte Aktivierung des NMDA-Rezeptors wird für einige Symptome während des Alkoholentzugs verantwortlich gemacht. Acamprosat wirkt als Modulator am NMDA-Rezeptor und stellt das Gleichgewicht zwischen inhibitorischen und exzitatorischen Neurotransmittern wieder her. Daneben reduziert Acamprosat auch die psychischen Belohnungseffekte des Alkoholkonsums. In klinischen Studien senkte Acamprosat als Begleitmedikation zu psychotherapeutischen Verfahren das Risiko des erneuten Alkoholkonsums und verlän­­gerte die Abstinenzphase. Ein Cochrane Review berechnete eine NNT (Number to treat) von neun. Es müssen also neun Patienten mit Acamprosat behandelt werden, um einen Rückfall zu verhindern. Zu Beginn der Behandlung müssen Patienten mit dem Auftreten von Durchfall rechnen. Diese Nebenwirkung verliert sich aber im Verlauf der Therapie.

Delirium tremens

Wenn vegetative Entzugssymptome nicht behandelt werden, kann sich das Vollbild eines Delirium tremens entwickeln. Die Patienten leiden unter psychomotorischer Hyperaktivität, Desorientiertheit und Halluzinationen. Neurologen schätzen, dass etwa jeder dritte Alkoholiker dann Tiere sieht, wobei in fünf von hundert Fällen die Abhängigen tatsächlich die »berühmten weißen Mäuse« herbeiphantasieren. Zusätzlich können Bewusstseinstörungen und Krämpfe (Grand-mal-Anfälle) auftreten. Ein Delirium tremens kann lebensbedrohlich sein, deshalb werden die entsprechenden Patienten intensivmedizinisch versorgt. Zum Einsatz kommen Benzodiazepine und hochpotente Neuroleptika, außerdem müssen Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen ausgeglichen werden. Um eine Wernicke-Enzephalopathie zu verhindern, werden die Patienten intravenös mit Thiamin behandelt.

Naltrexon ist ein kompetitiver Antagonist an μ-Opioid-Rezeptoren und wird seit Langem zur Behandlung der Opioid-Abhängigkeit eingesetzt. Seit 2010 ist der Wirkstoff auch für die Rückfallprophylaxe bei alkoholabhängigen Patienten nach einem erfolgreichen Entzug zugelassen. Naltrexon unterdrückt die euphorisierende Wirkung der endogenen Opioide, die nach Alkoholkonsum vermehrt freigesetzt werden. Indirekt wird ebenfalls der Belohnungsmechanismus durch den Genuss von Alkohol unterbrochen. In klinischen Studien war Naltrexon ähnlich wirksam wie Acamprosat, auch wenn die langfristige Wirksamkeit gelegentlich infrage gestellt wird. Häufig leiden die mit Naltrexon behandelten Patienten zu Beginn der Therapie an Übelkeit.

 

Disulfiram als nachrangige Therapie

 

Disulfiram hemmt den Abbau von Alkohol über eine Blockade der Acetaldehyddehydrogenase und sorgt so für eine Akkumulation von Acetaldehyd im Körper. Die entstehenden unangenehmen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Blutdruckabfall sollen eine Aversion gegen Alkohol bewirken und so die Abstinenz fördern. Auf das Verlangen nach Alkohol hat Acamprosat keinen Einfluss. Wegen der zahlreichen Kontraindikationen und der Notwendigkeit einer engmaschigen Überwachung des Patienten wird Disulfiram in den letzten Jahren immer mehr als nachrangige Therapieoption betrachtet. Vermutlich auch aus ökonomischen Gründen hat der einzige Hersteller eines Disulfiram-haltigen Arznei­mittels in Deutschland 2011 die Zulassung zurückgegeben. Seither ist Disulfiram nur noch als Einzelimport aus anderen europä­ischen Ländern erhältlich. /

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