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Die alltägliche Sucht

11.02.2015  09:43 Uhr

Von Anna Hohle, Berlin / Millionen Deutsche sind süchtig nach Alkohol oder Zigaretten. Dennoch werden beide Suchtmittel hierzulande noch immer stark verharmlost. Ende Januar lud die Drogen­beauftragte der Bundesregierung zwei Autoren ein, von ihrem persönlichen Weg aus der Abhängigkeit zu erzählen.

Sucht – ein unangenehmes Wort. Viele Menschen denken dabei unwillkürlich an illegale Drogen. An koksende Manager und Herointote im Bahnhofsklo. Dabei ist längst klar, dass in Deutschland sehr viel mehr Menschen von legalen Suchtmitteln abhängig sind, von Zigaretten und Alkohol. Beide sorgen nicht nur für Milliardenkosten im Gesundheitssystem, sondern auch für enorm viele Tote.

 

74 000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Ihre Zahl erhebt regelmäßig die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen DHS. Das Rauchen von Zigaretten und anderen Tabakwaren sorgt für bis zu 110 000 Tote im Jahr. Zum Vergleich: An illegalen Drogen wie Heroin, Kokain oder Crystal Meth starben 2012 hierzulande gerade einmal 944 Menschen.

 

Umso verwunderlicher, dass Alkohol und Tabak von vielen Deutschen nach wie vor nicht als die Gesundheitsgefahr wahrgenommen werden, die sie der Statistik zufolge darstellen. Stattdessen werden Gesundheits-Warnungen, die legale Suchtmittel betreffen, häufig ironisch belächelt oder sogar verärgert als Bevormundung zurückgewiesen.

 

Warum das so ist, beleuchtet der 1977 geborene Journalist und freie Autor Daniel Schreiber in seinem 2014 erschienenen Buch »Nüchtern. Über das Trinken und das Glück«. Schreiber schildert darin seinen Weg aus der Alkohol­abhängigkeit. Gleichzeitig versucht er zu ergründen, warum es vielen Menschen so schwerfällt, Abstinenzler zu akzeptieren und Alkoholismus als Krankheit anzusehen. Ende Januar stellte er sein Buch im Bundesgesundheitsministerium vor. Eingeladen hatte ihn die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU).

 

Alkohol zur Entspannung

 

Schreiber konsumiert seit 2011 keinen Alkohol mehr. Zuvor hatte er jahrelang regelmäßig getrunken, allerdings nie in den extremen Ausmaßen, die viele Menschen mit dem Begriff Alkoholismus verbinden. Eines seiner Anliegen ist es deshalb, deutlich zu machen, dass Abhängige oft in einem Rahmen trinken, der von Außenstehenden gar nicht als ungewöhnlich wahrgenommen wird. Süchtig sei eben nicht nur, wer täglich eine ganze Flasche Schnaps trinke. Süchtig sei vielmehr derjenige, der es nicht schaffe, tatsächlich langfristig auf Alkohol zu verzichten, erklärt der Autor.

 

Er selbst hatte immer wieder Phasen, in denen er wochenlang keinen Alkohol anrührte, nur um danach in alte Muster zurückzufallen und wieder täglich mehrere Gläser zu trinken. Manchmal bis zum Rausch, aber häufig auch nicht. Es sei ein Klischee, dass es Alkoholikern vorrangig um den Rausch gehe, sagt Schreiber. Sehr viel häufiger tränken Menschen, um zu entspannen oder zu vergessen. »Alkohol ist eines der besten Medikamente gegen Ängste jeder Art, gegen quälende Gedanken und Schuldgefühle« schreibt der Buchautor. »Es ist eines der besten Sedativa, die existieren, und es gibt kein besseres Mittel gegen Stress«.

 

Heute ist Schreiber abstinent. Er habe erst ohne den Suchtstoff zu wirklichem Glück und zur Zufriedenheit mit der eigenen Persönlichkeit gefunden, erzählt er im Buch. Nun wünscht sich der Autor, dass Alkoholismus in Deutschland nicht mehr verschämt totgeschwiegen, sondern als das angesehen wird, was er ist: Eine weit verbreitete neurologische Krankheit, die jeden treffen kann. Und die nicht durch Charakterschwäche entsteht, sondern durch bestimmte Prägungen und auch erbliche Veranlagung.

 

Es gehört zu den vielen Absurditäten beim Thema Sucht, dass trockene Alkoholiker häufig mit schiefen Seitenblicken bedacht werden, ehemalige Raucher dagegen freundliches Interesse und sogar Lob erfahren. Vielleicht liegt das daran, dass der Verzicht auf Zigaretten mittlerweile gern gesehen und gesellschaftlich erwünscht ist. Kaum jemand wird heute noch zum Rauchen gedrängt, während Alkohol-Abstinenzler noch immer schnell als Spaßbremsen gelten. Im Gegensatz zum Alkohol-Konsum sinkt die Zahl der Raucher unter jungen Leuten sogar.

 

Von der Mutter zum Rauchen animiert

 

Wie sehr jedoch über Jahrzehnte auch Zigaretten hierzulande unhinterfragt und in geradezu absurdem Ausmaß konsumiert wurden, erzählt der 1965 geborene Autor Gregor Hens in seinem 2011 erschienenen Buch »Nikotin«. Auch er war im Januar von Mortler zur Lesung geladen worden. Hens war lange Zeit starker Raucher, bis er es schließlich schaffte, den Zigaretten zu entsagen. Die Schilderungen seiner Kindheitserlebnisse lesen sich oft tragikomisch, etwa wenn der Autor erzählt, wie er nach langer Fahrt regelmäßig benommen aus dem verqualmten Auto seiner Eltern taumelte oder wie die Mutter den Sechsjährigen aufforderte, erstmals an einer Zigarette zu ziehen.

Wie Schreiber beschäftigt sich auch Hens mit der Tatsache, wie sehr veränderte Strukturen im Gehirn von Süchtigen den Verzicht erschweren und wie wenig der Abhängige seinen eigenen Gedankenwegen trauen kann. »Sucht ist eine Art Wille, fremd und vertraut zugleich, der selbstständig in uns wirkt«, schreibt der Autor. Bei ihm persönlich habe das Nicotin stets eine geistige Klarheit bewirkt, die gerade seiner kreativen Arbeit zu Gute kam. Letztlich fand er jedoch heraus, dass auch die Freiheit der Wahl, sich täglich für das Nichtrauchen und gegen das Rauchen zu entscheiden, eine angenehme Euphorie in ihm erzeugte. Diese Form der Bewusstmachung sei für ihn persönlich die beste Form der Prävention, erzählt er. So ist »Nikotin« auch ein Buch über den freien Willen.

 

Zwei Autoren, zwei Erfolgsgeschichten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Betroffenen in Deutschland nie von ihrem Suchtstoff loskommen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat erst in der vergangenen Woche zwei neue S3-Leitlinien zur Behandlung von Alkohol- und Tabakabhängigkeit herausgegeben (lesen Sie dazu Tabak und Alkohol: Mehr Hilfe für Abhängige). Patienten mit diesen Krankheiten seien im Vergleich zu anderen psychisch erkrankten Menschen massiv unterversorgt, heißt es darin. Die Mediziner bemängeln, was auch Daniel Schreiber kritisiert: Die Abhängigkeit von legalen Suchtmitteln werde in Deutschland von Vielen nicht als behandelbare Krankheit, sondern als »ungesunder Lebensstil« betrachtet.

 

Was aber kann man konkret tun gegen die Verharmlosung, die Unterversorgung, die vielen Toten? Die DGPPN sieht unter anderem die Hausärzte gefordert: Sie müssten mehr Patienten auf ihren Konsum ansprechen. Doch auch politisch müsste sich einiges bewegen, der Meinung ist zumindest die DHS. Seit vielen Jahren fordert die Organisation höhere Steuern auf Tabak und Alkohol sowie ein komplettes Werbeverbot für beide Suchtmittel ähnlich dem für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Zwar würden höhere Steuern bereits Abhängige kaum vom Konsum abhalten. Es sei jedoch erwiesen, dass weniger Menschen mit dem Konsum beginnen, wenn der Stoff teurer ist. Ebenso sei längst belegt, wie sehr Werbung insbesondere junge Menschen dazu bringt, Alkohol- und Tabakkonsum für harmlos und alltäglich zu halten.

 

Zwar darf für Zigaretten in Deutschland weder in Zeitschriften noch in Radio und Fernsehen geworben werden. Zulässig ist jedoch nach wie vor Außenreklame auf Plakaten und Kinowerbung nach 18 Uhr. Alkohol-Werbung ist sogar uneingeschränkt in allen Medien erlaubt. Es existieren zwar freiwillige Verpflichtungen verschiedener Herstellerverbände, auf bestimmte Formen der Werbung zu verzichten. Etwa auf Spots, die sich gezielt an junge Menschen richten. Der DHS zufolge haben diese freiwilligen Regeln jedoch kaum Wirkung, da sich Unternehmen nicht an sie halten. Verstöße gegen Werbeauflagen müssten strenger geahndet werden, fordert die DHS, ebenso Verstöße gegen den Jugendschutz, wenn etwa Verkäufer in Supermärkten und Tankstellen Alkohol an Teenager abgeben. Bislang gebe es nur extrem niedrige Bußgelder und generell zu wenig Kontrollen.

 

Bessere Kontrollen

 

Die Drogenbeauftragte erklärte auf Anfrage, sich für ein Tabakwerbeverbot auch auf Plakaten einsetzen zu wollen und dafür, dass Zigarettenwerbung in Kinos tatsächlich nicht mehr vor 18 Uhr gezeigt wird. Generelle Werbeverbote lehnt Mortler jedoch ab. Beim Alkohol setze sie lieber auf »gezielte Präven­tion«, schreibt die Politikerin. Genau das hält die DHS jedoch für falsch. Präventions-Kampagnen richteten sich fast immer an junge Menschen. Die weitaus meisten Alkoholsüchtigen seien jedoch älter. Suchtforschern zufolge sind höhere Steuern und Werbeverbote unumgänglich, um das Alkohol- und Tabakproblem langfristig in den Griff zu bekommen. Und auch die Suchthilfe müsse mehr gefördert werden. Beratungsstellen und Reha-Einrichtungen seien seit Jahren unterfinanziert, klagt die DHS. Ein Ende dieses Trends sei nicht abzusehen. /

Buchtipps

Gregor Hens: Nikotin

 

192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,

S.Fischer-Verlag,1. Auflage 2011,

ISBN 978-3-100-32583-9,

17,95 Euro

 

Daniel Schreiber: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück

 

160 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,

Hanser-Verlag, 4. Auflage 2014,

ISBN 978-3-446-24650-8, 16,90 Euro

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