Attacken vorbeugen ohne Medikamente |
Patienten mit Migräne sollten Stress vermeiden. Den Alltag gut zu planen und gegebenenfalls Entspannungsverfahren anzuwenden, kann helfen. / © Getty Images/Maskot
Migräne ist eine häufige neurologische Erkrankung, die von anfallsartigen Kopfschmerzen und begleitenden vegetativen Symptomen gekennzeichnet ist. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Wenn die Attacken häufig, stark und lang anhaltend auftreten, können Ärzte vorbeugende Medikamente verschreiben. Zusätzlich zur Arzneitherapie lässt sich einer Migräne aber auch mit nicht medikamentösen Verfahren vorbeugen. Was hier helfen kann, erklärt Professor Dr. Hans Christoph Diener, Migräneexperte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
»Die erste Maßnahme, die wir empfehlen, ist regelmäßige körperliche Aktivität. Das Minimum liegt bei dreimal 30 Minuten pro Woche, und es ist völlig egal, was man macht, Hauptsache man macht etwas«, so Diener. Das könne Joggen, Walking, Schwimmen, Fahrradfahren oder Treppensteigen sein. Es gebe eine Dosis-Wirkung-Beziehung, das heißt, ein bisschen mehr hilft auch mehr.
Forscher erklären sich die positive Auswirkung von Sport unter anderem damit, dass durch Bewegung Entzündungsmediatoren positiv beeinflusst werden, darunter Zytokine oder Stresshormone wie Cortisol. Außerdem wirkt sich Bewegung auf das endogene Opioid- und Cannabinoidsystem aus, sie beeinflusst die mikrovaskuläre Gesundheit und darüber möglicherweise die Kopfschmerzen. Auch der psychologische Einfluss ist nicht zu unterschätzen – Stichwort: Selbstwirksamkeit.
Regelmäßiges Sporttreiben senkt das Risiko für Migräneattacken. / © Adobe Stock/yanlev
Der Ersatz von körperlichen Aktivitäten wie Spielen, Toben oder Sport durch Zeit am Handy, vor dem Computer oder Fernseher könnte möglicherweise auch für die Zunahme von Migräne bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen. Diener: »Es gibt eindeutige große Studien aus Kanada, die zeigen, dass der wesentlichste Faktor, der erklärt, warum Migräne bei Kindern und Jugendlichen in den letzten 20 Jahren deutlich zunimmt, die vor dem Bildschirm verbrachte Zeit ist.«
Den zweiten wichtigen nicht medikamentösen Ansatz bilden Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung (PMR) nach Jacobson, Autogenes Training oder Tai-Chi. Sie werden, wie auch Ausdauersport, in der entsprechenden Leitlinie empfohlen. Dort beschreiben die Autoren, dass neben einer allgemein entspannenden Wirkung damit auch eine zentrale stabilisierende Regulation und Dämpfung der Informationsverarbeitung erreicht wird. »Bei den Entspannungsverfahren ist ebenfalls ziemlich egal, was man macht. Wichtig ist, dass man sich eines aussucht und es relativ konsequent praktiziert, mindestens jeden zweiten Tag«, empfiehlt der Neurologe.
Ein weiterer Pfeiler der Prophylaxe: Stress reduzieren. Zur besseren Stressbewältigung schlägt Diener vor, am Wochenanfang den Plan für die Woche beziehungsweise täglich den Plan für den Tag durchzugehen und auf Stressfallen zu scannen. Wo kann es zu Stress kommen, der nicht notwendig wäre? Sind meine Zeit-Slots zu eng gesteckt? Habe ich zu wenig Pausen eingeplant? Ebenso wichtig in diesem Kontext ist ausreichender Schlaf.
»Der vierte Punkt ist aus meiner Sicht mit Abstand der schwierigste: die Gewichtsreduktion«, so die Erfahrung des Neurologen. »Es ist ziemlich eindeutig, dass die Migränehäufigkeit linear mit dem Körpergewicht korreliert.« Gerade für adipöse Menschen sei es eine immense Aufgabe, Gewicht zu reduzieren. So wäre mehr Bewegung auch für die Gewichtsreduktion wünschenswert, doch mit Blick auf die Gelenke eignet sich bei starkem Übergewicht oft nur Schwimmen oder Fahrradfahren. Einen möglichen Ansatz bilden hier GLP1-Rezeptoragonisten. Es gebe erste Hinweise, dass sich diese Medikamente bei Diabetespatienten mit Übergewicht gleichzeitig positiv auf die Migräne auswirken können.
»Von der Vorstellung, dass es Migränetrigger gibt, haben wir uns weitestgehend verabschiedet«, sagt Diener. Untermauert werde dies durch erste prospektive Studien, bei denen Apps ausgewertet wurden (»Headache« 2022, DOI: 10.1111/head.14328). Darin zeigte sich, dass die meisten vermeintlichen Trigger vermutlich gar keine sind. Eine Ausnahme stellen Alkohol und die Periode dar sowie anscheinend ein sehr hoher Koffeinkonsum.
Bei den meisten anderen als Trigger vermuteten Faktoren handelt es sich sehr wahrscheinlich um Symptome der Prodromalphase einer Migräne. So kommt es beispielsweise häufig Stunden vor Beginn der Kopfschmerzen zu Nackenschmerzen. Viele Patienten vermuten, dass eine falsche Körperhaltung die Nackenschmerzen auslöst und dies dann zu einer Migräne führt. Doch stellen Nackenschmerzen ebenso wie Heißhunger auf Schokolade, eine Abneigung gegen Essen, Müdigkeit, vermehrtes Gähnen oder psychische Veränderungen offenbar bereits den Beginn einer Migräneattacke dar, nicht die Ursache.
Eine weitere Möglichkeit, einer Migräneattacke vorzubeugen, scheint die Akupunktur zu sein. »Hier gibt es keinen Zweifel, dass sie wirkt – allerdings zeigen die meisten Studien, dass es offenbar eine Placebotherapie ist.« Nicht mit Nadeln, sondern mit elektrischen Reizen arbeiten die Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) und die Remote Electrical Neuromodulation (REN). »Für TENS ist die Datenlage sehr schlecht. Die relativ neue REN scheint zu funktionieren. Das Verfahren ist aber extrem teuer«, schränkt der Migräneexperte ein.
Bei der TENS werden mit einem Reizstromgerät zum Beispiel Seitenäste des Trigeminusnervs durch niederfrequente Stromimpulse gereizt. Die REN setzt bei Mechanismen der körpereigenen Schmerzbewältigung an: Durch eine Stimulation mittels elektrischer Impulse unterhalb der Schmerzschwelle am Oberarm soll gezielt die absteigende Schmerzhemmung aktiviert werden.
Ein weiteres Verfahren, das vielversprechend scheint, ist die nicht invasive Vagusnerv-Stimulation (nVNS). Sie erfolgt über Elektroden, die am Hals oder an der Ohrmuschel angebracht werden. Der neuronale Mechanismus ist allerdings noch unklar (»Frontiers in Neurology« 2023, DOI: 10.3389/fneur.2023.1190062).
Generell sieht die Leitlinie aufgrund der aktuellen Studienlage bislang nur eine geringe Evidenz für den Einsatz nicht invasiver Neurostimulatoren und weist darauf hin, dass sowohl die fehlende Verfügbarkeit vieler Stimulatoren auf dem deutschen Markt als auch die fehlende Kostenübernahme durch die Krankenkassen ein Problem darstellen.
Und wie sieht es mit Biofeedback aus? »Es ist wirksam, aber im Moment muss es durch einen entsprechend ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden. Das ist extrem zeitaufwendig und teuer«, informiert Diener. App-basierte Therapien könnten eine Alternative darstellen. Sie sind dem Neurologen zufolge aber derzeit ebenfalls noch sehr teuer.
Apropos Apps: Mit speziellen Applikationen lässt sich das Auftreten von Migräne und Kopfschmerzen, ähnlich wie mit einem Migränetagebuch, dokumentieren. Ein Vorteil, den auch die Leitlinie konstatiert. Die App dokumentiert, wie die Krankheit verläuft, und zeigt, welche Maßnahmen sich positiv auf Häufigkeit und Dauer der Kopfschmerzen auswirken. Beim Arzt hilft sie, die Migränetage pro Monat nachzuweisen, denn »die Erinnerung ist ein schlechter Guide, insbesondere wenn es um Schmerzen geht«, weiß Diener. Außerdem vermitteln Apps Wissen und können bei verhaltenstherapeutischen Maßnahmen unterstützen. Doch es gibt auch ein Aber. Diener: »Man wird mit so einer App täglich an seine Migräne erinnert. Ob das so gut ist, weiß man nicht – ich sehe Apps daher sehr ambivalent.«
Im Internet kursiert zum Thema Migräneprophylaxe eine Vielzahl unsinniger Ratschläge. Ob Darmreinigung, Pilze, Piercing oder Bioresonanztherapie – für alle diese Dinge gibt es keinen Wirksamkeitsnachweis. Der fehlt auch für die meisten diätetischen Maßnahmen. »Eine schwache Evidenz gibt es für die Kombination Magnesium, Vitamin D und Coenzym Q 10. Hier konnte nachgewiesen werden, dass die Stärke der Attacken signifikant reduziert wird. Auf die Häufigkeit der Attacken hatte es allerdings keinen Einfluss und das ist ja eigentlich das Wesentliche«, so der Migräneexperte.
Will man mit nicht medikamentösen Verfahren die Migräne in den Griff bekommen, muss man mehrere Punkte gleichzeitig angehen. »Jede einzelne Maßnahme für sich besitzt nur eine begrenzte Wirksamkeit«, so Diener. Es läuft somit auf eine komplette Lebensumstellung hinaus, bei der das ganze Umfeld mit einbezogen werden sollte.
Viele Patienten mit Migräne haben Komorbiditäten, zum Beispiel muskuloskelettale Erkrankungen wie chronische Rücken- oder Nackenschmerzen. Diese Patienten profitieren von Physiotherapie, weil damit sehr häufig das schmerzleitende System positiv beeinflusst wird. Eine weitere Komorbidität betrifft den Kauapparat. So haben viele Migränepatienten noch zusätzlich ein temporomandibuläres Schmerzsyndrom. Und nicht zu vergessen: Angsterkrankungen und Depressionen. Diese müssen unbedingt mitbehandelt werden, sonst wird die Migräne nicht besser.