Artesunat in Europa auf dem Markt |
Annette Rößler |
02.12.2024 13:50 Uhr |
Bei einer schweren Malaria-Infektion erfolgt die Behandlung stationär. Das intravenös verabreichte Artemisinin-Derivat Artesunat ist seit Jahren das Mittel der Wahl – jetzt muss es nicht mehr importiert werden. / © Getty Images/skaman306
Eine Neuentwicklung ist der Wirkstoff Artesunat (Artesunate® Amivas, 110 mg Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Injektionslösung) allerdings nicht. Im Gegenteil: Er ist schon seit Jahren als Malariamittel im Gebrauch; seit 2002 steht er auf der Liste unentbehrlicher Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und 2015 wurde die Apothekerin und Professorin für traditionelle chinesische Medizin (TCM) Youyou Tu für die Entdeckung von Artemisinin, von dem Artesunat abgeleitet ist, mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet.
Charakteristisch für die chemische Struktur von Artemisinin und seinen Derivaten sind ein Trioxanringsystem und eine Endoperoxidbrücke. Artesunat wird nach parenteraler Gabe innerhalb von wenigen Minuten durch Esterasen und durch CYP2A6 in Dihydroartemisinin (DHA) umgewandelt, das ebenfalls die Endoperoxidbrücke aufweist. Die Elimination von DHA erfolgt dann innerhalb von wenigen Stunden hauptsächlich über den Urin nach Glucuronidierung.
Plasmodien sind Parasiten mit einem komplizierten Lebenszyklus, in dessen Verlauf sie rote Blutkörperchen infizieren. / © Imago Images/Depositphotos
Als Wirkmechanismus wird angenommen, dass nach der eisenvermittelten Spaltung des Peroxids ein freies Radikal entsteht, das an Proteine des Malariaerregers bindet und letztlich die Membran des Parasiten schädigt. Hierzu trägt wahrscheinlich bei, dass sich DHA stark in Erythrozyten anreichert, die mit Plasmodien infiziert sind (300-fach höhere Konzentration als im Plasma). Laut In-vitro-Daten wirkt Artesunat gegen alle Plasmodien-Arten, die beim Menschen Malaria verursachen, ähnlich gut. Dies sind neben P. falciparum, dem Erreger der Malaria tropica, P. vivax, P. ovale, P. malariae und P. knowlesi. Allerdings ist Artesunat gegen die von P. vivax und P. ovale gebildeten Leber-Ruhestadien (Hypnozoiten) des Erregers nicht wirksam.
Artesunat wird zur initialen Behandlung bei schwerer Malaria bei Erwachsenen und Kindern eingesetzt. Es gibt keine Altersgrenze und auch keine Empfehlung für eine Dosisanpassung bei bestimmten Patientengruppen. Vor Beginn der Therapie sollte Rücksprache mit einem in der Behandlung der Malaria erfahrenen Arzt gehalten werden.
Gegeben werden zunächst drei Dosen à 2,4 mg/kg Körpergewicht als langsame intravenöse Bolusinjektion über ein bis zwei Minuten nach 0, 12 und 24 Stunden. Danach kann der Patient auf eine orale Behandlung mit Antimalariamitteln umgestellt werden. Laut der deutschen S1-Leitlinie »Diagnostik und Therapie der Malaria« kommen hierfür etwa Artemether/Lumefantrin (Riamet®) oder Dihydroartemisinin/Piperaquin (Eurartesim®) sowie alternativ Atovaquon/Proguanil (Malarone® und Generika) in Betracht.
An eine i.v.-Therapie mit Artesunat soll sich ein vollständiger Behandlungszyklus mit einer oralen Kombitherapie anschließen. Patienten, die die orale Behandlung nicht vertragen, können alternativ die Artesunat-Therapie fortsetzen, und zwar weiter mit 2,4 mg/kg Körpergewicht als i.v.-Bolus einmal alle 24 Stunden ab 48 Stunden nach Beginn der Behandlung.
Ein nicht unerhebliches Wechselwirkungspotenzial ergibt sich daraus, dass DHA, der aktive Metabolit von Artesunat, CYP3A4 induziert und CYP1A2 hemmt sowie seinerseits hauptsächlich durch UGT1A9 inaktiviert wird. Starke UGT-Inhibitoren wie einige Kinasehemmer, aber auch Diclofenac sollten daher möglichst nicht gleichzeitig mit Artesunat angewendet werden, ebenso keine UGT-Induktoren wie unter anderem Carbamazepin. Vorsicht ist geboten bei gleichzeitiger Anwendung von Artesunat mit CYP3A4- oder -1A2-Substraten mit enger therapeutischer Breite.
Im ersten Drittel der Schwangerschaft wird die Anwendung von Artesunat nicht empfohlen, es sei denn, der Nutzen für die Mutter übersteigt das Risiko für das Kind. Im zweiten und dritten Trimenon scheint die Anwendung weniger kritisch zu sein, gleichwohl wird sie aus Vorsichtsgründen nicht empfohlen. Es wurde ein Schwangerschaftsregister zur Überwachung aller Schwangerschaften und ihrer Folgen nach der Behandlung mit Artesunate Amivas eingerichtet. In der Stillzeit ist zu beachten, dass DHA in die Muttermilch übergeht – es gilt, den Nutzen des Stillens für das Kind gegen das potenzielle Risiko abzuwägen, das mit einer DHA-Exposition einhergeht.
Als Wirksamkeitsbelege führt die Fachinfo die Ergebnisse der Studien SEAQUAMAT (South East Asian Quinine Artesunate Malaria Trial) und AQUAMAT (African Quinine Artesunate Malaria Trial) auf. Beides waren Vergleiche von Artesunat mit Chinin, die erstgenannte Studie bei 1461 Patienten (davon 202 Kinder unter 15 Jahre) und die zweite bei 5425 Kindern unter 15 Jahren. Alle waren schwer an Malaria tropica erkrankt. Beide Wirkstoffe wurden intravenös verabreicht, Artesunat in der zugelassenen Dosierung und Chinin mit 20 mg/kg Körpergewicht über vier Stunden, gefolgt von 10 mg/kg Körpergewicht dreimal täglich über zwei bis acht Stunden.
In der SEAQUAMAT-Studie betrug die Mortalität in der Intent-to-Treat-Population 14,7 Prozent in der Artesunat-Gruppe und 22,4 Prozent in der Chinin-Gruppe. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben reduzierte sich unter Artesunat um 40 Prozent. In der AQUAMAT-Studie lag die Mortalität in der Intent-to-Treat-Population in der Artesunat-Gruppe bei 8,5 Prozent und in der Chinin-Gruppe bei 10,9 Prozent, was einer Reduktion der Sterbewahrscheinlichkeit um 25 Prozent entsprach.
Die häufigste Nebenwirkung in Studien war Anämie. Sehr häufig bis häufig kommt es auch zu einer Retikulozytopenie, also einem Mangel an unreifen Erythrozyten, der sich nach Abschluss der Therapie zurückbildet.
Nach erfolgreicher Behandlung mit Artesunat kommt es sehr häufig zu einer verzögerten Hämolyse (Post-Artesunate-Delayed-Haemolysis, PADH), insbesondere bei Reiserückkehrern ohne vorherige Teilimmunität. Die PADH tritt mindestens sieben Tage, manchmal auch erst mehrere Wochen nach der Therapie auf. Pathophysiologisch kommt die PADH vermutlich dadurch zustande, dass mit Parasiten gefüllte Erythrozyten, die durch die Therapie abgetötet wurden, in die Milz einwandern, wo die Plasmodien aus den Blutzellen entfernt werden. Die solcherart gesäuberten Erythrozyten tauchen danach wieder im Blut auf, sind aber kleiner und kurzlebiger als normale rote Blutkörperchen.
Für Artesunate Amivas sind keine besonderen Lagerungshinweise zu beachten. Vor der Anwendung muss das Medikament mit dem mitgelieferten Lösungsmittel rekonstituiert werden. Die resultierende Lösung enthält Artesunat in einer Konzentration von 10 mg/ml und ist innerhalb von 1,5 Stunden zu verbrauchen.
Bereits seit vielen Jahren ist intravenöses Artesunat der weltweite Standard für die Erstlinientherapie von schwerer Malaria. Studien zeigen, dass die initiale intravenöse Behandlung mit Artesunat bei der Senkung des Sterberisikos hospitalisierter Patienten mit schwerer Malaria wirksamer ist als eine parenterale Behandlung mit Chinin.
Seit November gibt es erstmals ein Medikament mit Artesunat auch in Deutschland. Die Einstufung als Sprunginnovation kommt damit mit gehöriger zeitlicher Verspätung, denn Artesunat ist alles andere als neu und unbekannt. Dennoch ist es wichtig, dass das Medikament auch hierzulande für die initiale Behandlung von schwerer Malaria bei Erwachsenen und Kindern zugelassen und verfügbar ist. Jährlich wird bei etwa 1250 Personen in Europa eine schwere Malaria diagnostiziert. Meistens handelt es sich um Militärangehörige, die in Malaria-Endemigebieten eingesetzt sind oder um zivile Reisende, die von einem Besuch in einer solchen Region zurückkehren.
Seine ganz große Rolle spielt der Wirkstoff Artesunat aber nicht in Europa, sondern auf anderen Kontinenten. Jedes Jahr sterben mehr als 400.000 Menschen an Malaria, wobei die Bevölkerung in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara am stärksten betroffen ist. Zu Recht wurde der Wirkstoff schon vor mehr als 20 Jahren von der WHO in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen.
Sven Siebenand, Chefredakteur