Apotheken wollen nächste Woche streiken |
Daniela Hüttemann |
02.05.2023 14:00 Uhr |
Die Apotheke direkt neben dem Rathaus zeigt die Relevanz solcher niedrigschwelligen Zugangspunkte zum Gesundheitssystem, auch in kleinen Städten. Sie sind zunehmend gefährdet. / Foto: Adobe Stock/bevisphoto
»Fehlen die Apotheke und die Arztpraxis vor Ort, rutscht eine Kommune ganz ins Abseits«, warnte Hans-Günther Lund, Vorsitzender des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein (AVSH), am heutigen Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Ärztegenossenschaft Nord (ÄG Nord). »Wie Schulen und Kindergärten gehören Arztpraxen und Apotheken zur Daseinsvorsorge – nicht nur Krankenhäuser«, ergänzte Hausarzt Svante Gehring, Vorstandsvorsitzender der ÄG Nord. Die Bürger müssten sich auf einen massiven Strukturwandel mit weiteren Wegen einstellen.
Die Vor-Ort-Versorgung stehe auf der Kippe. Darauf wollten Ärzte und Apotheker kurz vor den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein am 14. Mai noch einmal deutlich hinweisen und fordern bessere Rahmenbedingungen. Apothekerverbandschef Lund kündigte an, dass die Apotheken im Norden am Dienstagvormittag, 9. Mai, landesweit streiken wollen, wobei selbstverständlich die Notdienstversorgung sichergestellt werde.
Auf einen ersten Streik im Oktober habe man sehr viele positive Reaktionen erhalten und wolle nun erneut ein klares Signal an die Politik senden, dass es so nicht weitergehe. Die Ärzte hatten bereits zuvor drei Streiktage durchgeführt. Die Ärztegenossenschaft kann sich darüber hinaus gut vorstellen, demnächst auch gemeinsam mit den Apotheken zu streiken.
Ärzte und Apotheker beklagen eine jahrzehntelange Unterfinanzierung der ambulanten Gesundheitsstrukturen sowie zunehmende Bürokratie und Erschwernisse durch Lieferengpässe und Rabattverträge. »Rund 150 Apotheken mussten in den vergangenen 15 Jahren ersatzlos schließen. Damit steht jede fünfte Apotheke der Versorgung in Schleswig-Holstein nicht mehr zur Verfügung – Tendenz zunehmend«, verdeutlichte Lund. Allein dieses Jahr könnten es 40 weitere Offizinen sein. Denn etwa jeder dritte Approbierte sei älter als 60 Jahre und viele fänden keinen Nachfolger.
Bei den derzeit 1927 Hausärzten werde in den kommenden fünf bis zehn Jahren altersbedingt die Hälfte aufhören, während die Nachfrage durch die alternde Bevölkerung mit zunehmender Multimorbidität weiter steige. Und auch bei Facharztpraxen sowie den medizinischen Fachangestellten gebe es Probleme. Die betroffenen Kommunen verlören dadurch an Attraktivität.
Junge Medizinerinnen und Pharmazeuten seien unter den existenzgefährdenden Bedingungen nicht mehr gewillt, in die Selbstständigkeit zu gehen, Investitionen würden erschwert, der Nachwuchs abgeschreckt. Viele Absolventen wanderten in andere Tätigkeitsfelder, Bundesländer oder gar ins Ausland ab. Ihnen sollte man mehr Unterstützung und eben attraktive Arbeits- und Lebensbedingungen in Schleswig-Holstein anbieten. Auch bei den Fachangestellten habe man massive Probleme.
Apotheken und Praxen seien zudem gleichermaßen durch Inflation, höhere Miet-, Personal, Material- und Energiekosten gefährdet, so Axel Schroeder, stellvertretender Vorsitzender der ÄG Nord. »Wir würden unsere Mitarbeitenden sehr gern weitaus besser bezahlen, aber das können wir derzeit nicht«, ergänzte Lund. Die Apotheken würden einfach kaputtgespart; langjährige Mitarbeitende würden von Industrie, Drogerien und sogar Krankenkassen abgeworben, da die besser zahlen könnten und die Tätigkeit aus weniger Bürokratie bestehe.
Es bedürfe einer Vorhalte-/Grundsicherungspauschale für beide Arten der Betriebsstätten, forderte Gehring. »Statt dessen werden betriebswirtschaftliche Einkünfte und Handlungsspielräume in Apotheken und Praxen beschränkt, auf der anderen Seite bleibt die Haftung und das betriebswirtschaftliche Risiko bis hin zur persönlichen Insolvenz«, so der Ärztechef.
Sie fordern auch Investitionen zur regionalen, kooperativen Berufsausübung in Gesundheitszentren, eine Rechtsgrundlage für ein gemeinsames Medikamentsmanagement, einen Ausgleich für »höhere Anforderungen durch die Telematikinfrastruktur«, Stichwort E-Rezept, und endlich nachhaltige Lösungen für die Lieferengpässe.
»Patienten müssen reihenweise Apotheken abklappern, Apotheker müssen in ganz Europa herumtelefonieren, um noch an Medikamente heranzukommen oder Rücksprache mit den behandelnden Ärzten halten, ob ein anderer Wirkstoff helfen könne«, brachte es Apotheker Lund auf den Punkt. Seine Apotheke habe nicht nur selbst hergestellt, sondern auch Fiebersäfte aus Portugal und Zäpfchen aus Österreich importiert.
Lund forderte auch mehr Handlungsfreiheit für die Apotheken ohne Retaxationsverfahren sowie einen Ausgleich für den höheren Aufwand für Apotheken und Praxen. Mittlerweile verbringe sein Team weniger Zeit vorn am HV mit den Patienten als hinten im Backoffice mit der Mangelverwaltung. »Und das ist noch ein lauer Wind, der richtige Sturm wird noch kommen«, fürchtet Lund. Es brauche kreative, gemeinsame, kooperative Lösungen und mehr Geld im System.