Rechtssicherheit in der Arzneimittelversorgung |
04.10.2004 00:00 Uhr |
»Die Bedeutung der Europäischen Union für die pharmazeutische Industrie und den Großhandel ist beträchtlich«, sagte Dr. Susanne Hof, Leiterin der ABDA-Europavertretung in Brüssel. Die Auswirkungen für die Apotheker seien zwar bislang noch gering, im Hinblick auf die Zunahme grenzüberschreitender Aktivitäten aber nicht zu unterschätzen.
Zudem sei die Situation »unberechenbar«, da auf EU-Ebene derzeit kein ganzheitlicher Ansatz für die Politikgestaltung existiere. Dies führe dazu, dass keiner der Entscheider in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg die Auswirkungen seines Handelns umfassend überblickt und somit hinreichend einschätzen könne, wie sich seine Entscheidung auf die Wirtschaftteilnehmer und Gesellschaft auswirke. Die größte Gefahr bestehe momentan darin, dass nationale Gesetzgeber europäische Anforderungen zu Lasten der nationalen Regelungssysteme fehlinterpretierten und weit über das erforderliche Maß hinausschössen.
Für den grenzüberschreitenden Versandhandel fordere der Europarat bereits seit 2001, internationale Gesetze. Im Falle des Fehlens dieser Gesetze fordere der Europarat zumindest, dass das Bestimmungsland-Prinzip, also das Recht des Landes, in dem das Arzneimittel an den Endverbraucher verkauft wird, Vorrang vor dem Recht des Herkunftslands hat. Prinzipiell sei die Frage zu klären, ob der Apothekenbereich weiterhin ausschließlich national geregelt werden sollte, wenn Industrie und Großhandel sich zwischenzeitlich europäisch ausgerichtet haben.
Egal ob Ost oder West – die Pharmazie befinde sich europaweit im Wandel. Allerdings seien trotz der großen Preisunterschiede zwischen Deutschland und den neuen Nachbarländern keine dramatischen Preissenkungen zu erwarten. Für selbstständige Apotheker aus den Mitgliedsstaaten gebe es im Gegensatz zu den Arbeitnehmern, für die Übergangsfristen für maximal sieben Jahre gelten, keine besonderen Beschränkungen, da für die gegenseitige Anerkennung der Berufsabschlüsse keine Übergangsfristen gelten würden. Dennoch sei eine Apothekengründungswelle nicht zu befürchten, da EU-Apotheker im Ausgleich für den in Deutschland gewählten Sonderweg der Niederlassungsfreiheit lediglich Apotheken übernehmen dürfen, die bereits seit mehr als drei Jahren bestehen.
Eins stehe fest: Soweit die Geschichte der EU eine Erfolgsgeschichte ist, habe sie dies dem Binnenmarkt zu verdanken. Dieser habe nicht nur die wirtschaftliche sondern auch die politische Integration vorangebracht. Gleichzeitig müsse jedoch berücksichtigt werden, dass die Zeiten, in denen ein undifferenziertes Mehr an Europa automatisch als Fortschritt galt und die Bewahrung von Nationalem vorschnell als überholt abqualifiziert wurde, vorbei sind. Insofern gelte es, sich einerseits vorurteilsfrei und konstruktiv mit den Chancen und Herausforderungen des neuen Europas auseinander zu setzen, andererseits jedoch nicht aus dem Blick zu verlieren, dass eine zukunftsfähige Entwicklung der Pharmazie nur dann möglich sei, wenn auf nationaler Ebene die erforderlichen strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen erhalten bleiben.
Verzicht auf Gestaltung
ABDA-Geschäftsführer Lutz Tisch sieht bei der Bundesregierung einen Trend zur Trennung von pharmazeutischer Dienstleistung und Abgabe des Arzneimittels. Gerechtfertigt werde dies vor allem mit der europäischen Harmonisierung. In vielen Fällen sei dies jedoch nicht nachvollziehbar. Welche Rolle die Apotheker in Zukunft spielen werden, entscheide letztlich der deutsche Gesetzgeber.
Als Beispiele für die Strategie der Bundesregierung nannte Tisch den Versandhandel und das Vertragsverletzungsverfahren bei der Krankenhausversorgung. Beim Versandhandel behauptete die Regierung, der EuGH werde das Verbot aufheben; bei der Krankenhausversorgung werde davon ausgegangen, das europäische Recht fordere die Aufgabe des Regionalprinzips. Beides sei »in der Logik zweifelhaft und im Wahrheitsgehalt teilweise bereits widerlegt«.
Der permanente Verweis auf vermeintliche europäische Notwendigkeiten ist auch deshalb zweifelhaft, weil die Positionen der europäischen Organe keineswegs identisch sind. Wie Tisch erklärte, setze die Europäische Union in den meisten Fällen auf das Sanktionsprinzip, also die Bestrafung bei Fehlverhalten. Dagegen halte der Europäische Gerichtshof auch präventive Regelungen wie das Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel für gerechtfertigt. Nach Tischs Überzeugung nutzt die Bundesregierung ihre Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Arzneimittelversorgung nicht ausreichend. Im Gegenteil: Bestehende Rechtsunsicherheiten würden genutzt, um das System zu destabilisieren.
Der Versandhandel, an dem auch Apotheken aus anderen EU-Ländern partizipieren, hat nach Tischs Überzeugung grundlegende und weitreichende Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung in Deutschland: Bis zum 31. Dezember sei die Organisation der Arzneimittelversorgung in Deutschland eine ausschließlich nationale Angelegenheit gewesen, so der Jurist. Das sei jetzt anders: „Mit der Zulassung des Versandhandels, den uns – zumindest für die verschreibungspflichtigen Arzneimittel – nicht Europa, sondern der nationale Gesetzgeber verordnet hat, wurde eine neue Dimension erst eröffnet.“
Der Zugang ausländischer Apotheken zum deutschen Endverbrauchermarkt hat für Deutschland weit reichende Konsequenzen, denn nun konkurrieren unterschiedliche Versorgungssysteme auf dem deutschen Markt. Der Gesetzgeber hat damit einen Teil seiner Gestaltungskompetenz aus der Hand gegeben, denn in Zukunft dürfen deutsche Gesetze ausländischen Versandapotheken nicht mehr den Marktzugang erschweren. Für die Apotheken hat dies zur Konsequenz, dass sie mit Anbietern konkurrieren müssen, für die andere nationale Gesetze gelten.
Die Öffnung des deutschen Arzneimittelmarktes für ausländische Anbieter habe zu erheblichen Verwerfungen geführt, so Tisch. Zwar sei die Arzneimittelproduktqualität in den Staaten der europäischen Union weitgehend identisch. Das gelte jedoch nicht für die sozialrechtlichen Steuerungselemente. Bei Niederlassung und Apothekenbesitzverhältnissen gebe es ebenso gravierende Unterschiede wie in der Preisgestaltung.
Tisch erkennt bei der Bundesregierung keinen ausgeprägten Willen, das System in der bestehenden Form zu erhalten. Das gelte weniger für Qualität und Verfügbarkeit von Arzneimitteln als vielmehr für pharmazeutische Dienstleistungen rund um das Arzneimittel. Die regelhafte Beratung der Patienten stehe zur Disposition. Beratung werde vielmehr als Option gesehen, die der Patienten wahrnehmen könne oder nicht. Verkannt werde dabei, dass objektiver und subjektiv empfundener Beratungsbedarf nicht immer deckungsgleich seien.
Mit dieser Haltung wie auch mit der geplanten Änderung der Arzneimittelversorgung der Krankenhäuser fördere die Bundesregierung die Trennung pharmazeutischer Dienstleistung und Arzneimittel. Zumindest nicht-verschreibungspflichtige Medikamente entwickelten sich so von einer Ware besonderer Art zum qualitätsgesicherten Konsumgut.
Das Schicksal der deutschen Apotheken hängt nach Tischs Überzeugung erheblich davon ab, ob sich die Bundesregierung in ihrem Handeln weiterhin am präventiven Patientenschutz orientiert. Setzten sich die Tendenzen in Richtung Sanktionssystem fort, dann seien die Aussichten weitaus schlechter.
Tisch forderte die Bundesregierung auf, endlich Rechtssicherheit für eine verantwortliche Arzneimittelversorgung zu schaffen. Dies sei die Voraussetzung dafür, dass die deutschen Apotheken »auch in einem zusammenwachsenden Europa ihren volkswirtschaftlich nicht anzuzweifelnden Beitrag zum Wohl des Patienten leisten – und zwar dort, wo der Bedarf besteht – wohnortnah.«
Kommentar: Weil die Regierung es will Beim Umgang mit europäischen Vorgaben zeigt die Bundesregierung eine erstaunliche Flexibilität. Während sie sich bei der Arzneimittelversorgung vergleichsweise machtlos gegenüber der Europäischen Union gibt, kämpft sie in anderen Bereichen wie ein Löwe. Mit aller Macht versuchte Autokanzler Gerhard Schröder zu verhindern, dass deutsche Hersteller den Import ausländischer Autos nicht mehr blockieren dürfen. Und sogar noch sinnvollere Dinge wie ein europaweites Verbot für Zigarettenwerbung wurde mit großer Hartnäckigkeit bekämpft. Das Argument: Die EU sei hier nicht zuständig.
Bei der Arzneimittelversorgung unterstellt die Regierung der EU dagegen eine grundsätzliche Zuständigkeit. Beim Versandhandel ist sie noch weiter gegangen. Hier hat sie sogar ihre Ahnung von den Wünschen der EU umgesetzt.
ABDA-Geschäftsführer Lutz Tisch hat deshalb Recht, wenn er der Regierung vorwirft, sie instrumentalisiere Rechtsunsicherheiten für ihre eigenen Ziele. Das zeigt sich besonders stark beim Vertragsverletzungsverfahren. Viele Experten halten eine so nachhaltige Änderung des Apothekengesetzes für unnötig. Die Regierung arbeitet trotzdem daran. Nicht weil Europa, sondern weil sie es selbst will.
Daniel Rücker
Stellvertretender Chefredakteur
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