Alterungsbremse Lonafarnib |
Sven Siebenand |
02.11.2022 07:00 Uhr |
Die Progerie ist eine sehr seltene genetisch bedingte Erkrankung. Das nach den Erstbeschreibern Jonathan Hutchinson und Hastings Gilford benannte Syndrom lässt Kinder im Zeitraffertempo altern. / Foto: picture alliance /Pacific Press
Kinder, die am Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom (HGPS) leiden, beginnen sehr früh und im Zeitraffertempo zu altern. Bereits im Jugendalter treten typische Alterserscheinungen wie brüchige Knochen, Gelenkprobleme und kardiovaskuläre Erkrankungen auf. Viele versterben an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 15 Jahren. Die Anzahl aller Fälle weltweit wird auf 200 bis 300 geschätzt.
Die frühzeitige Vergreisung geht auf einen Defekt des Zellkern-Strukturproteins Lamin A zurück, welches einerseits für die Strukturstabilität von Bedeutung ist und andererseits eine Rolle beim Ablesen der Erbinformation spielt. Im Normalfall wird Lamin A aus der Vorstufe Prälamin A gebildet. Um an die Kernmembran dirigiert zu werden, wird ein Farnesyl-Rest angehängt, der später dann wieder abgespalten wird.
Beim HGPS sorgen Mutationen für Änderungen. So kommt es dazu, dass im Prälamin-A-Gen eine neue Spleißstelle hinzukommt und Betroffene ein verkürztes Prälamin A bilden. Auch dieses wird anschließend farnesyliert und an die Kernmembran geleitet. Allerdings wird der Farnesyl-Rest dort nicht mehr eliminiert, weil mutationsbedingt ein wichtiges Enzym nicht richtig arbeitet. In Summe häuft sich bei HGPS farnesyliertes verkürztes Lamin A an. Dieses wird als Progerin bezeichnet und führt zu Zellschäden, Problemen mit der Zellteilung und vorzeitigem Altern.
Lonafarnib (Zokinvy® 50 oder 75 mg Hartkapseln, Eigerbio Europe) ist ein Inhibitor des Enzyms Farnesyltransferase. Der Wirkstoff sorgt dafür, dass das gebildete verkürzte Prälamin A gar nicht erst farnesyliert wird und sich damit weniger Progerin in der inneren Zellkernmembran ansammelt. Dies soll zur Aufrechterhaltung der Zellintegrität und der normalen Funktion beitragen.
Zwei einarmige Phase-II-Studien mit insgesamt 62 Patienten mit HGPS oder progeroiden Laminopathien mit Verarbeitungsfehler bilden die Basis für die Zulassung von Lonafarnib. Verglichen wurde mit einer hinsichtlich der natürlichen Vorgeschichte gematchten externen unbehandelten Kohorte. Drei Jahre nach Beginn der Behandlung mit Lonafarnib lebten die Patienten zwischen 2,5 Monaten und etwa einem halben Jahr länger als Patienten, die nicht an den Studien teilnahmen und die kein Lonafarnib erhalten hatten. Zum Zeitpunkt der letzten Nachbeobachtung, etwa elf Jahre nach Beginn der Behandlung, lebten Patienten unter Lonafarnib durchschnittlich 4,3 Jahre länger als unbehandelte Patienten. In Anbetracht der begrenzten verfügbaren Daten könnte die zusätzliche Lebensdauer jedoch auch nur 2,6 Jahre betragen, heißt es in der Fachinformation von Zokinvy.
Zugelassen ist Lonafarnib ab einem Alter von zwölf Monaten bei Patienten mit genetisch bestätigter Diagnose von HGPS oder progeroider Laminopathie mit Verarbeitungsfehler. Je früher die Therapie gestartet wird, desto höher ist der zu erwartende Nutzen. Die Hartkapseln werden zweimal täglich zu einer Mahlzeit eingenommen. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 115 mg/m2 Körperoberfläche. Die Erhaltungsdosis nach viermonatiger Behandlung soll 150 mg/m2 sein. Auch hier wird die Gesamtdosis auf zwei Dosen im Abstand von zwölf Stunden aufgeteilt.
Kontraindiziert ist Lonafarnib bei schwerer Leberfunktionsstörung sowie bei gleichzeitiger Anwendung mit starken CYP3A-Hemmern. Moderate CYP3A-Hemmer sind zu vermeiden, heißt es in der Fachinformation. Wenn die gleichzeitige Anwendung mit moderaten CYP3A-Inhibitoren unumgänglich ist, sollte die Dosis von Lonafarnib um 50 Prozent reduziert werden und es wird eine Überwachung des QTc-Intervalls empfohlen. Ebenfalls zu vermeiden ist die gemeinsame Gabe von Lonafarnib und CYP3A-Induktoren, insbesondere moderaten und starken. Wiederum tabu ist die gleichzeitige Anwendung von Arzneimitteln, die vorwiegend über CYP3A4 verstoffwechselt werden. Dazu zählen Midazolam und Statine wie Atorvastatin, Simvastatin und Lovastatin.
Nebenwirkungen wie Erbrechen und Übelkeit sind sehr häufig. Ebenso treten zum Beispiel Appetitlosigkeit, Bauchschmerz, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Infektionen der oberen Atemwege und Verstopfung sehr häufig auf. Der Arzt kann die Prävention oder Behandlung von Erbrechen und/oder Durchfall mit einem Antiemetikum und/oder einem Antidiarrhoikum in Betracht ziehen. Wenn gastrointestinale Nebenwirkungen auftreten, sollten das Gewicht, die Kalorienaufnahme und die Flüssigkeitsaufnahme des Patienten regelmäßig überprüft werden.
Laut Fachinformation sollte mindestens einmal pro Jahr die Leber- und Nierenfunktion getestet werden. Auch zu einer jährlichen Augenarztuntersuchung wird wegen einer möglichen Netzhauttoxizität von Lonafarnib geraten.
Lonafarnib ist die erste zugelassene Behandlungsoption bei Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom oder progeroiden Laminopathien mit Verarbeitungsfehler und damit eine Sprunginnovation. Heilen kann Lonafarnib die seltenen, aber schweren Erkrankungen nicht, allenfalls ihr Voranschreiten bremsen. Das zeigen die Studiendaten, von denen es wegen der Seltenheit der Erkrankung aber nicht allzu viele gibt. Zwei Phase-II-Studien haben gezeigt, dass Lonafarnib das Leben von Betroffenen deutlich verlängert.
Leider ist die Therapie sehr häufig mit Nebenwirkungen wie Durchfall, Übelkeit und Erbrechen verbunden. Diese treten hauptsächlich in den ersten Monaten der Behandlung auf und sind laut einem Expertengremium der Europäischen Arzneimittelagentur beherrschbar.
Bislang ist Lonafarnib unter »außergewöhnlichen Umständen« zugelassen. Neue Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit gilt es bei diesem Arzneistoff also besonders im Blick zu behalten. Gegebenenfalls wird man von Lonafarnib fernab der Progerie noch mehr hören. Denn die ursprünglich als Krebsmedikament entwickelte Substanz wird auch bei Hepatitis D klinisch untersucht.
Sven Siebenand, Chefredakteur