Alle Kinder gegen Grippe impfen lassen – oder nicht? |
Daniela Hüttemann |
11.01.2024 14:30 Uhr |
Der Impfkalender ist im ersten Lebensjahr ohnehin voll. Auch bei Kindern erfolgt die Grippeimpfung saisonal – beim ersten Mal sind zwei Dosen im Abstand von vier Wochen nötig. / Foto: Getty Images/Westend61/Mareen Fischinger
»Die aktuelle Impfempfehlung gegen Influenza zielt nur auf Kinder mit Risikofaktoren. Das ist aus unserer Sicht falsch«, hatte BVKJ-Ppräsident Dr. Michael Hubmann den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Dienstag gesagt. Es gehe auch um einen breiteren Schutz für die Allgemeinheit, indem man die Kinder als häufige Überträger impft; weniger um deren eigenes Risiko, (schwer) an Grippe zu erkranken. Die Idee ist nicht neu. Aktueller Anlass ist wohl, dass in der aktuellen Grippesaison vor allem Kinder im Schulalter und junge Erwachsene betroffen sind, wie es im letzten RKI-Wochenbericht hieß.
Australien hatte im Sommer 2023 eine sehr starke Grippewelle verzeichnet. Dort waren besonders Kinder bis neun Jahre betroffen gewesen (30 Prozent der rund 290.000 laborbestätigten Influenza-Infektionen), berichtet das Science Media Center als Reaktion auf den BVKJ-Vorschlag und hat Expertenmeinungen eingeholt.
Kinderarzt Professor Dr. Fred Zepp, der Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) ist, teilte mit: »Die STIKO beschäftigt sich schon seit vielen Jahren regelmäßig und intensiv mit der Weiterentwicklung von Influenza-Impfempfehlungen für verschiedene Indikationen und Altersgruppen.«
Berücksichtigt werde in erster Linie die Krankheitslast für die Geimpften selbst, aber auch Nutzen und Risiken der Impfstoffe und epidemiologische Faktoren wie eine Herdenimmunität würden einkalkuliert. Dazu erklärt Zepp: »Kinder sind zum Zeitpunkt der Geburt gegenüber Influenza immunologisch naiv, das heißt, sie besitzen noch keinen eigenen Immunschutz (Ausnahme: die Schwangere wurde geimpft). Schwere Krankheitsverläufe können im Säuglings- und Kleinkindalter auftreten, insgesamt ist die Krankheitslast etwa vergleichbar dem Infektionsgeschehen durch SARS-CoV-2. Wahrscheinlich erkranken saisonal jährlich etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder und etwa 10 bis 15 Prozent der Erwachsenen an Influenza. Insgesamt wird die Influenza im Kindesalter besser überstanden als im Alter von über 60 Jahren.«
Zur Wirksamkeit der Influenza-Impfstoffe sagt er: »Mit den heute verfügbaren Influenza-Impfstoffen wurden in der Vergangenheit bei Kindern Wirksamkeiten zwischen 0 und etwa 60 Prozent beobachtet. Auch hier wird wahrscheinlich häufig nur eine Wirksamkeit um 30 Prozent erreicht.« Durchschnittlich liege die Wirksamkeit der saisonal eingesetzten Influenza-Impfstoffe zwischen 30 und 70 Prozent, meist wahrscheinlich eher in der Größenordnung von 40 Prozent.
Derzeit empfiehlt die Ständige Impfkommission die saisonale Influenza-Impfung nur Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen. Dazu zählen zum Beispiel
Möglich ist die Impfung ab sechs Monaten. Derzeit wird regulär mit für Kindern zugelassenen intramuskulären tetravalenten Impfstoffen geimpft. Es steht auch ein nasaler Lebendimpfstoff speziell für Kinder zur Verfügung, dieser wird jedoch seit einigen Jahren nicht mehr vorrangig gegeben. Verordnet werden kann er beispielsweise bei Spritzenangst.
»Robuste umfangreiche Studien zur Wirksamkeit im Kindesalter sind rar«, gibt der Kinderarzt zu bedenken. »Aufgrund der begrenzten Wirksamkeit der aktuell verfügbaren Influenza-Impfstoffe im Kindesalter wird die Impfung aktuell nur für Kinder mit chronischen Grunderkrankungen und daraus resultierenden erhöhten Erkrankungsrisiken empfohlen. In dieser Situation ist eine Wirksamkeit von vielleicht nur 30 Prozent immer noch ein gesundheitlicher Vorteil.«
Würden 90 Prozent aller Kinder geimpft, sei immer noch bei zwei von drei Kindern das Auftreten einer Grippe möglich. Zepp gibt zu bedenken, dass das vermehrte Auftreten von Infektionen trotz Impfung die Akzeptanz eines allgemeinen Impfprogramms sehr schnell nachteilig beeinflussen würde – auch mit Blick auf zukünftig verfügbare besser wirksame Impfstoffe. Er ist der Meinung, für eine allgemeine Influenza-Impfempfehlung seien besser wirksame Impfstoffe dringend erforderlich. Aktuell seien verschiedene neue Konzepte wie adjuvantierte Impfstoffe, mRNA-Impfstoffe oder Universal-Impfstoffe in der Entwicklung.
Zepp erinnerte daran, dass sich längst nicht alle Personen, denen die Grippeimpfung empfohlen wird, selbst impfen lassen. So sollten sich alle Schwangere vor dem Beginn einer Grippesaison impfen lassen, da sie einerseits selbst ein höheres Risiko für einen schweren Influenza-Verlauf haben und andererseits ihre Antikörper als Nestschutz an ihr Baby weitergeben. Der Schutz gilt im Allgemeinen als ausreichend für die Grippesaison, in der das Kind geboren wird. Auch chronisch kranke Kinder sollten jährlich geimpft werden. Dabei muss in der ersten Impfsaison zweimal geimpft werden.
»Für die anderen Altersgruppen gesunder Kinder bedarf es der Entwicklung besser wirksamer Impfstoffe«, findet Zepp. »Natürlich können an Influenza erkrankte Kinder auch Erwachsene wie Großeltern anstecken. Das Argument, deswegen ein Impfprogramm mit den nicht sehr befriedigend wirksamen Impfstoffen für Kinder etablieren zu müssen, ist angesichts der Tatsache, dass gerade gefährdete ältere Menschen die Möglichkeit haben, sich durch Impfung (besser als Kinder) selbst gegen Influenza zu schützen, schwach und überrascht.« Die Senioren sollten sich also lieber selbst impfen lassen; die Impfquote liegt hier seit Jahren stagnierend bei nur 30 bis 40 Prozent.
Die Kinderärztin Professor Dr. Folke Brinkmann, Leiterin der Sektion Pädiatrische Pneumologie, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, plädiert angesichts einer drohenden schweren Grippewelle und dem Nachholeffekt aus Pandemiezeiten, alle Altersgruppen »großzügig« zu impfen. »Der individuelle und gesellschaftliche Nutzen ist vermutlich in dieser Saison höher als in vorherigen Jahren. Ob das für eine STIKO-Empfehlung ›ausreicht‹ ist immer schwer zu beurteilen.« Brinkmann gibt zu bedenken, dass sich so auch die stationäre Versorgung angesichts von Pflegenotstand und (Kinder-)Ärztemangel entlasten ließe.
Professor Dr. Markus Rose, Ärztlicher Leiter des Bereichs Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose, Olgahospital, Klinikum Stuttgart, erinnert daran, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Grippeimpfung aller Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren empfiehlt. »Es ist bedauerlich, dass in Deutschland bislang seitens der STIKO die Grippeimpfung nur für Risikogruppen und deren Kontaktpersonen empfohlen wird«, findet Rose. »Dies führt dazu, dass nur ein viel zu kleiner Teil unserer Bevölkerung vor Influenza geschützt ist und Deutschland im Winterhalbjahr in der Regel unter der zusätzlichen Krankheitslast durch Influenza-Viren leidet.« Er stimmt mit der Forderung des BVKJ überein. »Die aktuelle Grippewelle ist spät angelaufen und es kann Ende Februar noch ein zweiter Höhepunkt kommen – jetzt ist höchste Zeit, noch möglichst viele Menschen gegen Grippe zu impfen.«